Achten Sie auf die Bilanz Ihres Gefühlskontos
Bewusstsein

Achten Sie auf die Bilanz Ihres Gefühlskontos

Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer

Soziale Systeme funktionieren nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit. Wir leisten etwas und bekommen etwas dafür: nicht nur Geld, sondern auch Anerkennung, Wertschätzung, Lob und Dankbarkeit. Bleibt die Gegenleistung aus, steht unser Gefühlskonto im Minus.

Menschen möchten in ihrem Leben die Erfahrung machen, dass das eigene Tun etwas bewirkt und soziale Beachtung findet, und dass der Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zum erzielten Erfolg steht. Der Depressionsforscher Martin Seligman konnte in seinen Experimenten zur gelernten Hilflosigkeit nachweisen, dass sowohl Tiere als auch Menschen auf die Wirkungslosigkeit ihrer Aktionen mit depressivem Verhalten reagieren. Man hat etwas für andere getan, aber keine Anerkennung und keinen Gegenwert bekommen. Dabei erlebt man sich als wenig selbstwirksam und gerät in ein emotionales Minus.

Natürliche Reaktionen auf eine Minusbilanz unseres Verdienstkontos wären Ärger, Wut und Aggression. Sind unsere Aggressionen allerdings nach außen blockiert, richten sie sich nach innen, gegen uns selbst. Der Depressive empfindet genau dieses Ungleichgewicht in der Bilanz zwischen dem, was er investiert hat, und dem, was er daraus erzielt. Er lebt mit dem unterschwelligen Gefühl, von anderen oder vom Leben betrogen, bestohlen und übervorteilt worden zu sein.

Die Entstehung von Depressionen wird begünstigt durch die Tendenz, den Erwartungen der sozialen Umgebung gerecht werden zu müssen. Häufig liegen Erfahrungen von Hilflosigkeit, Verlust oder Vernachlässigung zugrunde. In der Kindheit machte man die Betreffenden über Schuldgefühle oder Drohung, die Beziehung abzubrechen, gefügig. Dies erklärt die Bereitschaft depressiver Patienten, die eigenen Interessen zu vernachlässigen, „unpassende Emotionen“ zu unterdrücken, eigene Bedürfnisse zurückzustellen, um die Beziehung zu anderen nicht zu gefährden.

Burnout-Patienten haben sich dagegen oft bereits früh als selbstwirksam erfahren, wurden aber meist nur bestätigt, wenn sie besondere Leistungen erbrachten. In der Kindheit wurden sie oft in nicht kindgerechte, überfordernde Rollen gedrängt, so dass sie später ihre Selbstwertgefühle nur über Anerkennung und Leistung erhalten. Dies lässt sie nie zur Ruhe kommen. Sie können nur schlecht delegieren oder sich abgrenzen, so dass sie mit unerbittlichen Ansprüchen an sich und andere, sich selbst im Funktionsmodus verlieren.

Depressionen und ein Burnout-Syndrom können als eine Reaktion des Unbewussten auf ein Ungleichgewicht in der inneren Bilanz gesehen werden. Das Unbewusste weigert sich, weitere Minusgeschäfte zu machen. Die Krankheiten schützen also vor sinnlosen Anstrengungen und zwingen den Betreffenden in den Energiesparmodus, um Selbst- und Fremdausbeutung zu stoppen. So bekommt die Krankheit eine Signalfunktion mit der Botschaft, dass Veränderungen anstehen und der Patient nicht weiter mit dem bewussten Verstand gegen das Symptom, also gegen sich selbst, ankämpfen sollte. Die Symptome fordern dazu auf, sich selbst wieder mehr Raum zu geben, berechtigte Bedürfnisse und Interessen offener zu vertreten, hilflose Opferrollen, die von kindlichen Grundüberzeugungen gespeist sind, zu verlassen, und als selbstwirksamer Gestalter des eigenen Lebens die Lebenszügel wieder in die Hand zu nehmen.

Selbstwertprobleme und eine mangelnde Selbstachtung sind also zentrale Themen bei Patienten mit Depressionen oder Burnout. Es mangelt an Erfahrungen, dass das eigene Handeln einen entscheidenden Einfluss auf die eigenen Emotionen hat und dass man selbst seine Gefühlswelt steuern kann, denn das ist ein wichtiger Grund für die Hoffnungs- und Hilflosigkeit, die der Patient in Bezug auf seine Lebensgestaltung zeigt.

Der entscheidende Aspekt einer therapeutischen Veränderung besteht in der konkreten emotionalen Erfahrung, dass man sich tatsächlich anders fühlen kann, wenn man sein Leben anders gestaltet, und dass die eigenen depressiven Stimmungen nicht eine Reaktion auf die Welt und das Verhalten Anderer sind. Die Erkenntnis, dass die beklagten Gefühle wie Wut, Ärger, Enttäuschung, Niedergeschlagenheit, Scham, Depression und das Gefühl, ausgebrannt zu sein, in Beziehung zu eigenen Mustern und Verhaltensweisen stehen, geben Impulse zur Veränderung. Solche Gefühle sind oft Reaktionen auf die selbstgeschaffenen Erfahrungen, die geprägt sind von Entscheidungen gegen die eigene Person. Es gilt also, wieder zu lernen, selbstbestimmt zu leben, denn niemand wird geboren, um die Erwartungen anderer zu erfüllen.

Weisheiten

  • Erziehung heißt, dass ein Mensch in sieben Jahren verlernt,
    was er die nächsten 70 Jahre wieder lernen muss: die Fähigkeit,
    seinen Bedürfnissen zu folgen.
  • Wir waren einzig – und sind nur noch artig.
  • Wer alles tut, was die Lehrer ihm sagen, bekommt ein gutes Zeugnis.
    Wer alles tut, was ihm sein Herz sagt, bekommt ein gutes Leben.

Foto: Aliaksei Lasevid/Fotolia