Keine Angst vor der Angst
Bewusstsein

Keine Angst vor der Angst

Dr. rer. nat. Henrike Staudte

Die meisten Menschen empfinden Angst als ein negatives Gefühl, verbinden sie mit Schwäche und versuchen deshalb, sie möglichst schnell zu überwinden. Jedoch gehört die Angst zur menschlichen Existenz, wie die Luft zum Atmen und dient als natürlicher Instinkt dem Selbstschutz.

Das Gefühl der Angst enthält immer eine Botschaft, die erkannt und verstanden werden möchte. Die Kunst besteht darin, zu unterscheiden, ob die Angst einer echten äußeren Bedrohung entspringt oder durch einen Angriff auf das innere Welt- oder Selbstbild ausgelöst wurde.

Dazu ist es notwendig, das Gefühl der Angst bewusst wahr- und anzunehmen. Auf der körperlichen Ebene zeigt sich Angst beispielsweise durch eine angespannte Muskulatur, Schwitzen, eine flache Atmung und eine gehemmte Verdauungstätigkeit – und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine reale Bedrohung oder eine Panikattacke handelt. Die Schweißdrüsen sondern Stoffe ab, die von anderen Lebewesen wahrgenommen werden und diese ebenfalls in Angst versetzen können. Aus diesem Grund sind Tiere eine besondere Hilfe, wenn es darum geht, verdrängte Ängste aufzudecken.

Dies lässt sich eindrucksvoll am Beispiel der Pferde verdeutlichen. Als Fluchttiere nehmen sie kleinste Veränderungen in der Körperspannung wahr und spiegeln ihrem Gegenüber seinen inneren Zustand wider. Durch diese Fähigkeit lehrte ein weißes Pferd einer jungen Frau, welche intuitive Weisheit hinter dem Gefühl der Angst stecken kann. Die Frau hatte sich in die Obhut einer Hippotherapeutin (= Therapeutin, die mit Pferden arbeitet) begeben, um ihr aktuelles Gefühlsleben, das von Ängsten beherrscht war, zu erkunden. Im Rahmen der Therapie näherte sie sich der Pferdekoppel mit der Anweisung, sofort stehen zu bleiben, sollte sie ein Gefühl der Anspannung verspüren. Ihr Blick heftete sich auf ein weißes Pferd, das ihr aufmerksam entgegenblickte, und plötzlich konnte sie keinen Schritt mehr gehen. Ihr Herz begann heftig zu schlagen, Angst stieg in ihr auf und gleichzeitig schämte sie sich, denn zwischen ihr und dem Pferd lagen immer noch ein Abstand von zehn Metern und ein Weidezaun.

„Ich kann nicht weiter“, rief sie der Therapeutin zu und spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. „Es ist alles gut, tue einfach wonach dir gerade ist“, antwortete die Therapeutin. Die Frau behielt den Abstand zur Koppel bei und lief in einer geraden Linie an das andere Ende der Wiese. Mittlerweile konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten und tiefe Schluchzer entrangen sich ihrer Kehle. Sie sank auf die Knie und weinte einige Minuten hemmungslos. Als sie wieder aufblickte, entdeckte sie das weiße Pferd, welches im Inneren der Koppel mit ihr mitgelaufen war und nun seelenruhig auf der Wiese lag und sie anblickte. Auf einmal war die Angst verflogen, tief berührt und innerlich befreit ging sie zu dem weißen Pferd, kniete sich neben ihm nieder und dankte ihm.

Erst hinterher erfuhr sie von der Therapeutin, dass das Pferd manchmal aus heiterem Himmel mit der Hinterhand auskeilte, und plötzlich wurde der Frau bewusst, dass ihr Unterbewusstsein das Gefühl der Angst geschickt hatte, um sie zu warnen und gleichzeitig anzuleiten, sich dem Pferd einfühlsam zu nähern, denn vermutlich reagierte es selber aus Angst so unkontrollierbar auf den Menschen. Auf einmal konnte die Frau ihre Angst als vertrauensvollen Verbündeten annehmen, der ihr tiefere Einsichten in die eigene Persönlichkeit ermöglichte und dadurch ihr Selbstbewusstsein stärkte.

Veränderungen erfordern Mut

Die größte Herausforderung besteht wohl darin, die Angst vor einer Veränderung zu überwinden. Eine Veränderung bedeutet meist, in ein unbekanntes Terrain vorzudringen, und das erfordert Mut. Es ist unglaublich, welche Ängste selbst eine innere Veränderung auslösen kann, wenn plötzlich das eigene Selbstbild ins Wanken gerät und alte Glaubenssätze über Bord geworfen werden müssen. Ein Mensch, der in der Vergangenheit immer an sich zweifelte, sich nichts zutraute und als wenig selbstbewusst galt, kann regelrecht in Panik geraten, sobald sich ein unterdrückter Teil seiner Selbst offenbart und er erkennt, dass besondere Fähigkeiten in ihm stecken und er eigentlich viel selbstsicherer ist, als er glaubte. Er fühlt sich bedroht von den neuen Empfindungen, die nun von ihm verlangen, alte Verhaltensmuster abzulegen und neue zu etablieren.

Dieser innere Wandlungsprozess beinhaltet sowohl Aspekte des Sterbens als auch des Neugeborenwerdens. Wer hätte davor keine Angst? Zudem zieht er oftmals drastische Veränderungen im Außen wie etwa das Lösen einer Partnerschaft, ein Arbeitsplatzwechsel oder einen Umzug nach sich und stellt dadurch das gewohnte Leben komplett auf den Kopf. Doch genau deshalb sind wir hier auf dieser Erde, um ein Leben im Wandel zu führen, immer auf der Suche nach dem ureigenen Selbst und dem damit verbundenen inneren Frieden. Wenn wir die Angst als Freund betrachten, wird sie uns ein wertvoller Begleiter sein.

Foto: Thinkstock/simon burgess