Die heilsame Kraft der achtsamen Berührung
Bewusstsein

Die heilsame Kraft der achtsamen Berührung

Ingelore Bonfert

Besonders in der westlichen Welt berühren sich Menschen immer weniger. Der Trend zur digitalen Kom-munikation tut dazu sein Übriges. Der Einfluss, den der Tastsinn auf unser Sozialverhalten und unbe-wusste Bewertungen ausübt, wird jedoch meist unterschätzt.

Ohne körperliche Berührung verkümmern wir emotional, unsere Gesundheit leidet und das soziale Miteinander verkommt zu einem dumpfen Nebeneinanderher.

Probieren Sie einmal folgende kleine Übung: Streichen Sie mehrmals in schnellen Zügen über den eigenen Unterarm und denken dabei an das gestrige Mittagessen. Dann streichen Sie an der gleichen Stelle liebevoll, sanft und mit der vollen Aufmerksamkeit über die Haut. Wenn Sie einen Unterschied wahrgenommen haben, dann haben Sie bereits eine Ahnung davon, was Achtsamkeit in der Berührung ausmacht.

Der Tastsinn ist bereits im Mutterleib vorhanden und erlischt erst mit dem Tod. Ohne Tastsinn können wir unsere Bewegungen nicht koordinieren, entwickeln kein Ich-Gefühl, erfahren uns nicht als eigenständiges Individuum. Dem Zusammenhang zwischen Berührung, Gesundheit und Lebensglück wird in unserer Gesellschaft jedoch kaum Beachtung geschenkt.

Der Tastsinn ist der einzige unserer Sinne, der in beide Richtungen funktioniert: Wir spüren uns und den, der uns berührt. Der Tastsinn ist darüber hinaus immer präsent und lässt sich nicht abschalten. Er ist höchst komplex: Qualität, Intensität, Dynamik, Dauer und Geschwindigkeit des Reizes sind in ihrem Zusammenspiel entscheidend für die Bewertung der Berührungserfahrung.

Die Haut enthält Tastrezeptoren, die in unterschiedlicher Dichte über die Haut verteilt und am dichtesten in Fingerspitzen, Lippen, Zunge, Brustwarzen, äußeren Geschlechtsorganen und Afterregion sind. Vor einigen Jahren wurden Sensoren identifiziert, die ausschließlich an der behaarten Haut vorkommen. Sie sind die Enden von langsam leitenden Nervenfasern (ca. 1 m pro Sekunde). Ein leichtes, zärtliches Streicheln der Haut ist für sie ein starker Reiz. Die Haut ist also nicht nur unsere Identität stiftende, sondern unsere fühlende Hülle. Der Zellbiologe Bruce Lipton hat nachgewiesen, was das für unser Gesamtsystem und seine Gesunderhaltung bedeutet: Die Informationen, die wir über unsere Haut erhalten, ist weitaus bedeutender als die der Gene.

Jede als angenehm empfundene Berührung stimuliert unsere Lust- und Belohnungszentren im Gehirn, die auch beim Suchtverhalten eine Rolle spielen. So gesehen weisen angenehme Berührungen ein hohes Suchtpotenzial auf. Berührung ist außerdem die erste Sprache, die wir lernen, und sie bietet eine unglaubliche Fülle an Ausdrucksmöglichkeiten. Über Berührung vermittelte Botschaften haben eine direkte Wirkung auf den Hormonhaushalt und damit auf das Denken und Handeln von Menschen. Gefühle lassen sich über Berührung zuverlässiger transportieren als in Worte gefasst. Berührungen können also als eigenständiges Mittel der Kommunikation bezeichnet werden.

Jede als bedrohlich, schmerzhaft, grob oder lieblos und besonders auch als nicht absichtslos empfundene Berührung wird jedoch im Zellgedächtnis unseres Körpers gespeichert und kann zur Unzeit wieder aufbrechen und uns zu unverhältnismäßigen Verhaltensweisen veranlassen. Menschen mit solchen Kindheitserfahrungen haben oft Berührungsängste und müssen erst lernen berührt zu werden, sich berühren zu lassen und auch selbst zu berühren.

Bei angenehmen Berührungen wird das Kuschelhormon Oxytocin vermehrt ausgeschüttet. Es stärkt unser Bindungsgefühl und steigert unsere innere Zufriedenheit, ist also ein Schlüssel zum anhaltenden Glück. Es macht uns außerdem sanfter und hilft, Spannungen und Ärger zwischen Partnern zu dämpfen und ist in erhöhter Konzentration nachweisbar, wenn sie sich häufig umarmen und gegenseitig massieren.

Foto: Thinkstock/Design Pics/Don Hammond