Die Sprache der Symbole
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Bewusstsein

Die Sprache der Symbole

Dr. phil. Christoph Quarch

Die Reaktionen auf den Brand von Notre-Dame wurden in den Medien heftig diskutiert. Vor allem dass für den Wiederaufbau der Kathedrale innerhalb von zwei Tagen weit mehr Spenden aufgebracht wurden als für die fünf weltweit größten Projekte des Roten Kreuzes (Syrien, Südsudan, Irak, Nigeria, Jemen) zusammen in einem ganzen Jahr. Tatsächlich aber ist das Feuer von Paris ein Lehrstück darüber, wie wichtig und bedeutsam auch heute noch die Sprache der Symbole ist.

Der Brand von Notre-Dame lehrt uns einiges über unser Menschsein, denn es ist nicht nur ein Gebäude in Flammen aufgegangen, sondern eine sehr bekannte Kirche mit hohem Symbolgehalt. So zitierte die Neue Zürcher Zeitung kurz nach dem Feuer die britische Psychologieprofessorin Hanna Zagefka mit den Worten: „Das ist nicht nur Stein und Holz, Notre-Dame hat Symbolik. Es geht um den Kern einer französischen und einer europäischen Identität.“ Notre-Dame ist ein Symbol für Frankreich und Europa – ein Wahrzeichen, wie unsere Sprache trefflich sagt, denn es offenbart etwas, was sich sonst nicht leicht gewahren ließe: die kulturelle Identität einer Nation, ja eines ganzen Kontinentes. Doch es geht hier auch um eine religiöse Dimension.

Die Kirche ist der Gottesmutter als Schutzpatronin des Abendlandes geweiht. Damit ist sie mehr als eine einfache Marienkirche. Sie ist gebaut auf alter heidnischer und keltischer Religion, sie wurzelt tief in der Urspiritualität der matriarchalen Vorzeit und spricht symbolisch von Geborgenheit und Mutterschaft. Davon weiß der Intellekt des neuzeitlichen Menschen wenig. Ihm sind Konzepte wie Patriotismus oder Denkmalpflege näher. Aber was die Resonanz auf dieses Großfeuer ans Licht bringt, ist, dass tief unter der geläufigen rationalen Benutzeroberfläche unseres Alltagsbewusstseins eine tiefere, existenziell bedeutsamere Dimension des Menschseins schlummert, die sich plötzlich meldet, wenn die Sprache der Symbole machtvoll spricht.

Diese Tiefendimension kannten unsere Vorfahren als „Seele“. Neuere psychologische Richtungen würden vielleicht eher das Unbewusste – vor allem das kollektive Unbewusste – bemühen und damit auch nicht falsch liegen. Aber der alte Begriff der Seele hat den Vorteil, dass er zu erkennen gibt, dass wir es hier mit einer Dimension des Daseins zu tun haben, die den eigentlichen Kern unserer Existenz markiert. In ihr schlummern die vollkommen unerwarteten und unberechenbaren Potenziale menschlichen Handelns, wie sie sich in der Spendenbereitschaft für Notre-Dame manifestieren. Hier haben wir es mit einer Sphäre zu tun, die sich jeder Quantifizierung entzieht. Denn die Seele ist so wenig rational, dass Algorithmen ebenso wie moralische Vernunft an ihr verzweifeln möchten.

Und das ist gut so. Denn in der Tiefe unserer Seele liegt der Kern der Menschlichkeit und Humanität. Insofern ist es nicht unmenschlich, wenn ein Spender hunderte Millionen für den Aufbau von Notre-Dame in die Hand nimmt – und nichts für Flutopfer in Mosambik. Es ist durchaus menschlich, aber eben nicht in einem moralischen, sondern in einem existenziellen Sinne. Denn es verrät, dass es uns Menschen in Wahrheit nicht darum zu tun ist, intelligent oder moralisch zu handeln, sondern sinnstiftend. Sinn aber erschließt sich nicht der Rationalität, sondern nur der Seele – vermittelt durch Symbole oder Mythen.

Unsere Seele weiß um die unbändige Gewalt des Feuers. Sie versteht, warum die Götter einstmals gar nicht glücklich waren, als Prometheus ihnen das Feuer raubte und den Menschen schenkte. Sie weiß um die alles Leben verzehrende Kraft der Flammen, und sie weiß um die Bedeutung eines schützenden Daches für das fragile, endliche Dasein eines Sterblichen. Sie weiß auch um die Sehnsucht nach Geborgenheit und Schutz durch eine Mutter – unsere Dame – und sie schreckt mit Recht die transzendentale Obdachlosigkeit der modernen Welt, die in Paris sinnenfällig geworden ist.

Die brennende Notre-Dame wirft so gesehen durchaus nicht unbedingt ein schlechtes Licht auf die mangelnde Moral der Zeitgenossen gegenüber anderen „Hotspots“ dieser Welt. Vielmehr erweist sich Notre-Dame sogar in Flammen noch als Wahrzeichen, das etwas Wahres zu erkennen gibt: die Wahrheit über unser fragwürdiges und liebenswertes Menschsein – die Wahrheit, dass wir ohne Sinn nicht leben können; und dass es unsere Seele und nicht unsere Intelligenz (sei sie künstlich noch so optimiert) ist, der alleine sich die Dimension des Sinns erschließt – und zwar durch eine Sprache der Symbole, die sich rational niemals berechnen und ermessen lassen wird.