Für ein Leben im Hier und Jetzt
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Bewusstsein

Für ein Leben im Hier und Jetzt

Esther Pauchard, FÄ für Psychiatrie und Psychotherapie

Wie war das noch gleich damals, mit zweieinhalb Jahren? Wie hat sich das angefühlt? Viele psychotherapeutische Ansätze leben vom Blick in die Vergangenheit, von der Aufarbeitung des Einstigen. Doch ist das wirklich immer von Nutzen? Ein Plädoyer fürs Hier und Jetzt.

Viele Patienten kommen primär zu mir in die Behandlung, um ihre Vergangenheit aufzuarbeiten, eine problembeladene Kindheit und Jugend, traumatische Ereignisse. Dagegen ist nichts einzuwenden, oft macht das Sinn. Entgegen der Erwartung vieler Menschen ist dieses Zurückschauen, das Aufarbeiten des Vergangenen jedoch nicht der einzige Weg, nicht die Königsdisziplin der Psychotherapie – oft ist es nicht einmal notwendig.

Sie werden mich nicht für meine überschäumende Genialität bewundern, wenn ich Ihnen sage, dass wir alle eine Vergangenheit haben, eine Gegenwart und eine Zukunft. Zu banal ist dieser Gedanke. Und doch finde ich es hilfreich, wenn wir uns diesen Gedanken im Geist sichtbar machen, greifbar machen. Stellen Sie sich vor, Sie und ich, wie wir gehen und stehen, befinden uns auf einer unsichtbaren, langen Zeitlinie. Links von uns unsere Vergangenheit, rechts von uns die Zukunft. Ohne es zu merken, rücken wir beständig auf unserer individuellen Zeitlinie nach rechts, Minute um Minute, Stunde um Stunde. Und das Einzige, was für uns erreichbar ist, der einzige Raum, in dem wir wirksam handeln können, ist die Gegenwart, die kleine, kostbare Blase auf dieser Zeitlinie, die uns hier und jetzt unmittelbar umgibt. Niemand von uns kann zurück in die Vergangenheit reisen und die Geschehnisse von damals ändern, ganz egal, wie lange, wie gründlich und wie weit wir zurückschauen, ganz egal, wie tiefgründig und fachkundig wir darüber reden. Was wir ändern können, ist unsere Sichtweise der Vergangenheit, unser Verständnis der Vergangenheit, unser Begreifen dessen, welche Auswirkungen die Wurzeln der Vergangenheit auf unsere Gegenwart haben – und damit auf unsere Zukunft. Aber die Macht, etwas zu ändern, liegt in der Gegenwart – und nur in der Gegenwart.

Ein Aufarbeiten der Vergangenheit nützt also nur insofern, als es spürbare und konkrete Auswirkungen auf unsere Gegenwart hat. Als reiner Selbstzweck, als Geistesübung ohne greifbare Folgen für die Gegenwart, ist ein Aufarbeiten der Vergangenheit sinnlos.

Über die Vergangenheit zu reden kann aber bequemer sein, als sich der Gegenwart zuzuwenden. Solange man die Therapeutin hübsch mit der Vergangenheit beschäftigt hält, kommt die nicht auf dumme Ideen und verlangt am Ende noch von einem, man sollte hier und heute konkret aktiv werden. Und es kann verführerisch sein, sich selbst vor Augen zu halten, wie schwer man es hatte. Jemand, der es so schwer hatte, so entscheiden manche, kann im Hier und Heute unmöglich etwas an seinem Leben ändern. Auch das ist eine Meinung, die es zu würdigen gilt.

Es ist nicht die objektive Wahrheit, sondern nur eine subjektive Meinung. Vielleicht ist es sogar ein Mythos. Und die Frage ist wieder: Dient Ihnen diese Meinung? Wird sich Ihr Leben zum Besseren wenden, wenn Sie an dieser Meinung festhalten? Blicken Sie ungeniert in Ihre Vergangenheit. Es kann ungeheuer hilfreich sein. Aber vergessen Sie nicht, wo Ihr wahrer Platz ist: Im Hier und Jetzt.

Vielleicht kennen Sie diesen Spruch: „Ich wünsche mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht verändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Dieses Zitat wird im Original dem amerikanischen Theologen Dr. Reinhold Niebuhr zugeschrieben; er habe es im Kontext des zweiten Weltkriegs verfasst. Und ich finde, dieser simple Kalenderspruch umfasst im Grunde die Essenz der Psychotherapie. Wer dieses Prinzip verinnerlicht hat, hat viel Wesentliches begriffen.

Weiterführende Literatur
Esther Pauchard: Jenseits der Sprechstunde. Das Rezept sind SIE! Lokwort Verlag, Bern 2023

Autorin
Esther Pauchard,
Jahrgang 1973, hat in Bern Medizin studiert und arbeitet seit über zwanzig Jahren als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, davon über sechzehn Jahre in Führungspositionen. Ihr Hauptinteresse innerhalb ihres Fachgebiets galt immer und gilt auch heute der Psychotherapie.