Der Wald weist Dir den Weg
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Bewusstsein

Der Wald weist Dir den Weg

Alexa Willems

Ich habe viele, viele Urlaube auf einer kleinen Hütte in den österreichischen Alpen verbracht. Das Steinhaus auf 1600 Metern Höhe befindet sich fernab von den Touristenhochburgen und es ist nicht mit dem Auto erreichbar. Nur ein schmaler, steiler Fußweg führt hinauf.

Anni kümmert sich um die Hütte und nimmt die Gäste in Empfang. Ihr sonnengegerbtes Gesicht erzählt viel von den Herausforderungen und Freuden des Berglebens und trotz ihres Alters wirkt sie vital und fit. Im Laufe der Jahre haben wir uns angefreundet und die Gespräche mit ihr sind mir ans Herz gewachsen.

Als sie mich während eines meiner Aufenthalte spontan zu ihrer Lieblingswanderung einlädt, sage ich freudig zu und stopfe schnell ein paar Sachen in meinen Rucksack. Anni wartet auf der Holzterrasse auf mich und trinkt Tee, den sie aus würzigen Bergkräutern aufgegossen hat. Als ich mich zu ihr setze, deutet sie auf meinen Rucksack: „Kumm, auspapierln.“ Ich schaue sie überrascht und fragend an. Das Wichtigste für das Gelingen einer Wanderung, erklärt sie, sei es zu wissen, was man mitschleppt. Ich zögere – aus gutem Grund, denn meinen Rucksack, der mein ständiger Begleiter ist, habe ich lange nicht mehr geleert.

Doch dann packe ich ihn vor Annis Augen aus. Sie gibt keine Ruhe, bis jede Tasche und jedes Fach leer ist. Ich staune nicht schlecht, als sich am Ende alle möglichen Sachen über die gesamte Tischplatte verteilen. Über längst vermisste Mützen bis hin zu sage und schreibe vier Tuben Hand- und Sonnencreme ist so ziemlich alles dabei. Wie und wann ist das alles in meinen Rucksack hineingekommen? Vieles davon hatte ich tatsächlich vergessen, einiges schon vermisst, anderes an einem vollkommen anderen Platz verzweifelt gesucht.

„Was davon brauchst du heute wirklich?“, fragt mich Anni und schaut mich dabei verschmitzt an. Ich muss nicht lange nachdenken und packe natürlich nur noch einen Bruchteil der vor mir liegenden Sachen in den Rucksack. Als ich ihn wieder schultere, ist die Last auf meinem Rücken viel leichter geworden. Waren es auch nur Kleinigkeiten, haben sie zusammen doch ein ziemliches Gewicht ergeben. „Kleinvieh macht auch Mist“, meint Anni und ruft mir ein fröhliches „Pack ma’s!“ entgegen.

Kennst Du dieses Gefühl, überflüssigen Ballast mit Dir herumzuschleppen, der nur Dein Leben schwer macht? Oder geht es Dir sogar so, wie es mir gegangen ist? Ich wusste ja noch nicht einmal mehr, welche unnötige Last ich eigentlich in meinem Rucksack trug.

So wie wir Mützen, Cremetuben und ausgetrocknete Filzstifte unnötigerweise mit uns herumtragen, beschweren Blockaden und Muster, Ängste und Probleme und all die kleinen und großen Sorgen unseren Lebensrucksack. Eben alles, was uns hindert, ein Leben zu führen, in dem wir uns wirklich zu Hause fühlen. Und irgendwann merken wir gar nicht mehr, wie schwer unser Rucksack mit den Jahren geworden ist. Es ist deshalb hilfreich und unbedingt notwendig, genauer hinzuschauen auf unsere „Rucksack-Themen“.

Auch ich hatte meine Ängste, Verletzungen und Schamgefühle gut und lange verstaut. Und zwar so sehr, dass ich ganz vergessen hatte, dass sie existieren. Manches hatte ich sogar in ein Geheimfach verbannt, in der Hoffnung, dort würde es sich wie von Zauberhand auflösen – was natürlich nicht passiert ist. Aus der Tiefe haben all diese Päckchen mein Leben trotzdem belastet, sich auf die eine oder andere Weise immer wieder „zu Wort gemeldet“. Das Leben si­gnalisiert uns deutlich, wann was dran ist. Als ich am Ende meiner Kräfte war, konnte ich nicht mehr wegsehen und weghören. Und ich begann, meinen Lebensrucksack auszupacken und neu zu sortieren. […] Das alles geschah nicht von heute auf morgen. Es war ein langer, herausfordernder Weg, der viel Geduld und Ausdauer benötigte. Eine wichtige Erkenntnis aus dieser Zeit ist: Erst wenn wir bereit sind anzunehmen, was ist, können wir erste Schritte der Veränderung gehen.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch:
A. Willems: Der Wald weist Dir den Weg, bene!
Verlag/Droe­mer Knaur 2023

Autorin
Alexa Willems ist Logotherapeutin. Ganz persönlich hat sie erfahren, dass der Wald nicht nur ihr selbst, sondern auch vielen anderen Menschen, die sie als Therapeutin und Coach begleitet, guttut.