Vom „Nutzen“ des Zeitmangels
Foto: PKpur/Shutterstock
Bewusstsein

Vom „Nutzen“ des Zeitmangels

Prof. Dr. rer. pol. Karlheinz A. Geißler

Noch nie hatten wir so viel Zeit wie heute: Maschinen nehmen uns viel Arbeit ab – auch zu Hause. Wir müssen für Lebensmittel weder jagen noch auf dem Feld arbeiten, und es gibt Verkehrsmittel, die uns rasch von einem Ort zum anderen transportieren. Die Digitalisierung soll für zusätzliche Bequemlichkeit sorgen, d. h. wir sparen viel Zeit. Und dennoch leiden wir paradoxerweise unter Zeitmangel.

Zeit begegnet uns fast immer nur als knappe Frist, ist also gleichbedeutend mit Mangel. Da geht es uns nicht anders als dem Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890 – 1935), der sich 1919 in einem Brief an seine Freundin Mary beklagte: „… dieses Tempo, diese irrsinnige preußische Art, sich das Leben kaputt zu machen – und ohne Sinn! Und ohne Zweck und Ziel! Anderswo wird auch gearbeitet, und sicherlich so intensiv wie bei uns – aber man macht nicht solchen Salat daraus.“

Verschärft wird die Verrücktheit dieses Tempos durch das, was wir gegen den Zeitdruck und den -mangel tun. Wir sparen und verknappen jene Zeit, von der wir vermeintlich zu wenig haben. Wir können ohne Zeit nicht leben, aber mit ihr anscheinend auch nicht richtig.

Dabei bräuchten wir nur etwas Mut, um alles ganz anders zu machen. Leisten könnten wir es uns, nicht zuletzt, weil wir genug Zeit dafür hätten. Noch nie war die Lebenserwartung so hoch wie heute. In Mitteleuropa liegt sie derzeit bei rund 80 Jahren und hat sich in den letzten 130 Jahren damit annähernd verdoppelt. Zugleich vermindert sich die statistisch erfasste Arbeitszeit. Trotz alledem: Wir tun zu viel und arbeiten über unsere Verhältnisse. 38 % der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen klagen über Termindruck, 36 % über emotionalen Stress und etwas mehr über ein schlechtes Arbeitsklima. Es sind nicht unsere Bequemlichkeit oder unsere Veranlagung zum Ausruhen, die uns Probleme machen, es ist das maß- und endlose Machen, das hektische Tun, das immerzu „Auf-dem-Sprung-Sein“ und das „Nie-genug-Haben“, das unser Zeitleben so unbefriedigend macht. Außerdem bringen die „kleinen Helden“ der Alltagsbeschleunigung und -vereinfachung Stress in jede Pause: Smartphone, E-Mail, Fernbedienung, Pizza-Service, „soziale“ Medien, und Vieles mehr. Die Folgen sind allgegenwärtig: Zeitdruck, überhöhtes Tempo, strapazierte Nerven und Dauerstress.

Wir haben mehr Zeit als je zuvor
Die menschliche Zivilisationsgeschichte kennt keine Epoche mit ähnlich großen Zeitfreiheiten wie heute. Und trotzdem sprechen wir immer häufiger von „müssen“ und klagen über unsere zeitlichen Nöte:
● „Ich hätte gerne noch mehr erzählt, muss aber leider jetzt weg.“
● „Hab leider keine Zeit, muss jetzt los, Emil aus dem Kindergarten abholen.“
● „Entschuldige bitte, ich muss schnell mal telefonieren.“
● „Nein, ich kann nicht kommen, muss den Artikel über den Zeitmangel spätestens bis heute Abend abliefern.“

Statt mit der netten Nachbarin, die einem soeben über den Weg läuft, zu plaudern, reklamiert man Zeitdruck für Dringlicheres, Interessanteres oder Nützlicheres, lässt sie kurzerhand stehen und hastet weiter.

Manch einer sagt, er hätte keine Zeit, in Wirklichkeit hat er aber keine Lust, oder einen attraktiveren, konkurrierenden Termin. Oder man nutzt die „fehlende Zeit“ als Ausrede, sich ein lästiges Gespräch vom Hals zu halten, ist aber zu feige, das offen und ehrlich zu sagen. Der nicht fassbaren Zeit die „Schuld“ für die Kommunikationsverweigerung in die Schuhe zu schieben, gehört zu den beliebtesten Ausreden und Abwehrstrategien. Da Zeitmangel im täglichen Kleinkrieg um Zeitgewinne in unserer Tempogesellschaft eine Selbstverständlichkeit ist, funktioniert das auch problemlos. Obwohl sich das Eingeständnis von Zeitmangel doch auch wie die Kapitulationserklärung anhört, weder in der Lage, noch fähig zu sein, das eigene Leben vernünftig organisieren zu können.
Beliebt ist die „Keine Zeit“-Ausrede, weil sie den Abbruch von Gesprächen ebenso problemlos ermöglicht wie die Verweigerung sozialer Kontakte oder die Zurückweisung von Verpflichtungen und Verantwortung. Die „Leider keine Zeit“-Ausflucht erlaubt es Menschen, mühelos und ohne Gesichtsverlust das Weite zu suchen, ohne dass die Gesprächspartner erkennen, wie rücksichtslos sie dabei abgefertigt werden. Wer demonstriert, dass er keine Zeit hat, hat Wichtigeres zu tun und ist daher entschuldigt.

Zeitmangel ist in heutiger Zeit normal
Notorischer Zeitmangel ist ein Produkt unserer kommunikativen und ökonomischen Zeit-ist-Geld-Kultur. Er ist normal, und das Normale muss man nicht begründen. Das ist dann auch der Grund, weshalb die vorgefertigte Floskel „Tut mir leid, keine Zeit“, die hin und wieder die Grenze zur Lüge überschreitet, gar nicht als Ausrede wahrgenommen wird.

Solche Gedanken müssen Goethe durch den Kopf gegangen sein als er in seinem Faust II zu dem harschen Urteil kam: „Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.“ In Kulturen, in denen die Uhrzeit, wenn überhaupt, nur eine randständige Rolle spielt, in denen man mit Terminen und Fristen wenig anfangen kann und die Ereignisse in den meisten Fällen so lange dauern, bis es „genug“ ist, ist die Begründung „Keine Zeit“ für den Abbruch der Kommunikation eine Beleidigung, zumindest aber Unhöflichkeit gegenüber jenen Personen, die man damit abspeist.

Zur Schau gestellte Zeitnot ist bei uns auch deshalb attraktiv, weil sie den Kommunikationspartnern suggeriert, zu jenen einflussreichen Leistungsträgern zu gehören, die für den materiellen Wohlstand und das Tempo in unserer Gesellschaft zuständig sind. Wer darauf Wert legt, von seinen Mitmenschen als erfolgreich wahrgenommen und bewundert zu werden, zeigt seine Bedeutsamkeit am ehesten durch einen übervollen Terminkalender, akuten Zeitmangel und permanente Überlastung. Will sich jemand als Person zeigen, die auf der Höhe der Zeit ist, darf sie keine haben oder ihre Unlust zum Gespräch mit Zeitnot begründen. Kein Wunder, dass der Kommunikationskiller „Ich habe keine Zeit!“ so beliebt ist: Er fungiert als Türöffner für die Suiten der Erfolgreichen, Geschätzten und Bewunderten.

Schnelligkeit ist bei uns sehr angesehen
Damit das alles so funktioniert, braucht man eine Gesellschaft, in der Schnelligkeit mehr Ansehen genießt als Langsamkeit, in der die Demonstration von Zeitnot mehr Prestige und Vorteile einbringt als Zeitfülle, das Tun stärker belohnt wird als das Lassen, und in der das Ziel allen Handelns vor allem materieller Wohlstand und nicht Zeitwohlstand ist.
In den Machtzentren einer solchen Gesellschaft, und das ist die, in der wir leben, begegnet man den Überarbeiteten, Zeitarmen, Ungeduldigen und Erschöpften. An ihren Rändern trifft man auf die Zeitreichen: Arbeitslose, Flüchtlinge, von Altersarmut Betroffene und diejenigen, die unter Brücken leben müssen. Mit diesen, in ihren Augen „bedauernswerten“ Zeitgenossen, wollen die Demonstranten des Zeitmangels nichts zu tun haben.

Ja, und dann gibt es noch die Zeitnot-Heuchler, die aus lauter Angst vor einem Mangel an einem Zeitdefizit ihr Leben auf Hochtouren bringen. Es sind schwer zu ertragende Mitmenschen, denn für sie ist Zeitwohlstand und Zeithaben ein bedrohlicher Zustand. Hätten sie nämlich Zeit, dann müssten sie sich von der Illusion verabschieden, das tun zu können, was sie sich für diesen Fall vorgenommen haben. Mit Zeit wissen sie so wenig anzufangen, wie mit sich selbst.

Fassen wir zusammen: Das Ticket für den Eintritt in das „Keine Zeit, außer für Hetze”-Theater, in die Arenen endloser Zeitnot, in denen der Stress regiert, die Eile den Alltag bestimmt und Ruhe, Pausen und alles Zaudern und Zögern einen schweren Stand haben, ist die widersprüchliche, auf soziale Anerkennung, Status und Prestige spekulierende Klage: „Tut mir leid, keine Zeit.” Widersprüchlich ist diese Ausrede vor allem, weil Menschen, solange sie behaupten, in Zeitnöten zu sein, zumindest so viel Zeit haben, sich über Zeitmangel zu beklagen.

„Keine Zeit!“ Keine andere Lüge dürfen wir so schamlos und ungestraft äußern. Es geht bei dieser Pseudoklage um vieles, selten aber um zu wenig Zeit. Von der haben wir nämlich genug. Das ganze Leben besteht aus Zeit und jeden Tag kommt neue nach.

Informationsfülle verdichtet unsere Zeit
Wie immer wir uns die Zeit und ihren Verlauf auch vorstellen, sie vergeht uns fast immer zu schnell, weil wir zu viel in sie hineinstopfen. Vor einigen Jahrzehnten gab es nur ein paar wenige Fernseh- und Radiosender, heute kommen zu unzähligen Programmen noch Internet, Smartphones, WhatsApp, Facebook, Twitter etc. hinzu. Wir lassen uns permanent mit Nachrichten überschütten, empfangen mehr Informationen als je zuvor. Wir nehmen mehr und mehr Ereignisse wahr und an ihnen teil.

Je stärker sich die Zeit verdichtet, umso mehr erlebt sich der heutige Mensch gehetzt. Er wünscht sich mehr Zeit, obgleich er zunehmend mehr hat. Doch wir überfrachten unseren Alltag – und das macht die Zeit eng. Wir haben nicht zu wenig von ihr, sondern in der vorhandenen zu viel zu tun. Zeit zu sparen ist der größte Volkssport der Menschen in Industrienationen. Und die vermeintlich gewonnene Zeit wird umgehend wieder verplant.

Man muss das nicht allzu glaubhafte Drama der knappen Zeit jedoch nicht immer und überall mitspielen: Sind Sie wieder einmal gut aufgelegt und zudem mutig, dann konfrontieren Sie bei Gelegenheit doch mal den einen oder anderen, der mit der Standard-Entschuldigung: „Tut mir leid, keine Zeit“ das Weite sucht, mit der Frage: „Welche Zeit hast Du eigentlich nicht?“

Die Vorstellungen, die wir von der Zeit haben, unterscheiden sich von Kultur zu Kultur, verändern sich aber auch im Lauf der Geschichte. Es ist illusorisch, die Zeit verändern zu wollen. Wir können nur uns selbst ändern, unsere Bilder und Vorstellungen von dem, was wir Zeit nennen. Versuchen Sie, auf Distanz zu Ihren bisherigen Vorstellungen und Bildern zu gehen. Man kann das allein, durch Selbstbeobachtung machen, z. B. bei einem Waldspaziergang, in der Badewanne oder während meditativer Gartenarbeit.

Leichter ist es aber, sich mit einem angenehmen Gesprächspartner, einem Freund oder einer Freundin, Gedanken über die Zeit zu machen, und zwar mit einer gewissen Neugierde und Freude am Experimentieren. Dabei wird nämlich deutlich, dass sich die Vorstellungen der Individuen voneinander unterscheiden und zu einem unterschiedlichen Umgang mit der Zeit führen. Fragen Sie sich, ob Ihre Vorstellungen von der Zeit von Mangel oder Fülle geprägt sind, wie sie sich in Ihrem Sprachgebrauch ausdrücken, welche Rolle der Kulturkreis spielt oder wie sie sich in Ihrem Handeln auswirken.

Foto: PKpur/Shutterstock