Die Rollen unseres Lebens – Masken, Identität und die Kunst der Authentizität
Foto: woters / Adobe Stock
Bewusstsein

Die Rollen unseres Lebens – Masken, Identität und die Kunst der Authentizität

Verena Grein, Heilpraktikerin für Psychotherapie

Das Leben ist eine Bühne, sagen wir, und wir wissen, dass in diesem Bild ein tiefer Wahrheitskern liegt. Kaum ein Mensch betritt den Tag, ohne ein Kostüm überzustreifen. Manche sind leicht und wechselbar wie ein Mantel, andere haften an uns wie eine zweite Haut. Wir sind Kinder und Schüler, Freunde und Rivalen, Partner und Eltern, Liebende und Enttäuschte, Vorgesetzte und Geführte, Fremde im Café und vertraute Stimmen am Telefon. Wir schlüpfen von einer Rolle in die nächste, und oft geschieht es so unbemerkt, dass wir das Spiel gar nicht mehr als solches erkennen.

Diese Rollen sind notwendig. Sie verleihen dem Miteinander Ordnung, sie schaffen Erwartbarkeit, sie geben dem chaotischen Strom des Lebens Form. Ohne sie wären wir ein diffuses Wesen, unfassbar für andere und womöglich auch für uns selbst. Doch jede Rolle ist eine Reduktion: ein Bild, ein Ausschnitt, ein Fragment dessen, was wir in Wahrheit sind. Wer wir sind, lässt sich in keiner Funktion vollständig ausdrücken.

Gefährlich wird es, wenn wir uns so sehr in einer Rolle einrichten, dass wir uns mit ihr verwechseln. Wenn aus „ich spiele“ ein „ich bin“ wird. Die Mutter, die in der Fürsorge für ihre Kinder das eigene Gesicht vergisst. Der Manager, der nur noch in Zahlen spricht, bis er die Sprache der Gefühle nicht mehr findet. Die Liebende, die im Spiegel nur noch das Bild des Begehrten sieht, nicht mehr das eigene. Rollen können uns schützen, uns Halt geben – doch sie können auch verschlingen.

Die Maske, die wir tragen, ist nicht per se ein Feind. Sie ist ein Werkzeug, ein altes menschliches Erbe. In den Ritualen früher Kulturen war die Maske ein heiliges Medium, eine Schwelle zwischen Mensch und Gottheit, zwischen Alltäglichem und Geheimnisvollem. Auch heute noch übernehmen wir Masken, wenn wir uns in der Öffentlichkeit bewegen. Sie verleihen uns Würde, Distanz, Form. Doch wehe, wenn die Maske nicht mehr als Maske erkannt wird, wenn wir vergessen, dass sie nur geliehen, nie identisch mit unserem Kern ist. Dann beginnt sie, unser wahres Gesicht zu überdecken, bis wir selbst es nicht mehr sehen.

Authentizität bedeutet nicht, alle Rollen abzuwerfen. Das wäre eine naive Illusion, ein romantischer Traum vom „nackten Selbst“, das völlig frei und unverstellt existiere. In Wahrheit sind wir nie ohne Rolle – schon das Schweigen ist eine Rolle, schon das Rückzugnehmen ein Ausdruck, eine Botschaft an die Welt. Authentizität bedeutet vielmehr, die Rolle bewusst zu wählen, sie mit Durchlässigkeit zu tragen. Authentisch ist, wer weiß, dass er eine Maske aufhat – und dennoch durch die Augen dieser Maske hindurch noch sichtbar bleibt.

Vielleicht ist Authentizität ein feines Spiel aus Nähe und Distanz. Wir bewohnen die Rollen, doch wir bleiben zugleich deren Beobachter. Wir verfallen ihnen, doch wir kehren auch zu uns zurück. Es ist wie ein Tanz auf einer Bühne, bei dem wir gleichzeitig Tänzer und Zuschauer sind. Wer diesen Blick nicht verliert, verliert auch sich selbst nicht.