Uhrlos glücklich und zufrieden
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Bewusstsein

Uhrlos glücklich und zufrieden

Prof. Dr. rer. pol. Karlheinz A. Geißler

Häufig werde ich von Journalisten, die etwas über meine Studien wissen wollen, gefragt, warum ich keine Uhr trage. Die Frage sagt einiges über unser Zeitverständnis, unseren Umgang mit Zeit und darüber wie unsere Gesellschaft „tickt“. Ich besitze auch kein Klavier, doch danach fragt kein Mensch, und es scheint auch niemanden zu interessieren.

Wir leben anscheinend in einer Gesellschaft, in der man das Nichttragen einer Uhr erklären muss, den Nichtbesitz eines Klaviers aber nicht. Der uhrlose Mensch wird zu einem Sonderling erklärt. Dabei trägt doch eine Mehrheit der Weltbevölkerung keine Uhr am Arm. Nicht, weil sie dafür kein Geld hat, sondern weil sie mit einer Uhr gar nichts anfangen kann. Ihr Leben folgt nämlich nicht dem Takt der mechanisch hergestellten toten Uhrzeit, sondern den Rhythmen der äußeren und inneren Natur und deren Zeitsignalen. Ihr Körper, die Sterne, die Pflanzen und Tiere in ihrer Umgebung sagen ihnen, was die Stunde geschlagen hat. Sie brauchen keine Uhr, denn diese sagt ja nicht, was zu tun ist.

Die Zeiger bestätigen nur, dass jeder Tag gleich lang ist, aber sie sagen nichts über die unterschiedliche Breite der Tage. Auf diese kommt es jedoch an, sie erst macht die Tage mehr oder weniger interessant, verleiht ihnen Farbe und Qualität. Wilhelm Hauff hat darauf hingewiesen, dass die Tage gewogen, nicht gezählt werden. Zum Wiegen der Tage aber eignet sich die Uhr nicht. Dafür brauche ich keine Fessel am Handgelenk die mich an eine tote, mechanisch produzierte Zeit bindet und mich davon abhält, auf meine Leidenschaften, Gefühle, Wünsche und das, was um mich herum vor sich geht, zu schauen. „Die Uhr“, hat Ernst Jünger einmal lapidar gesagt, „gehört nicht in den Wald.“ Warum sollte sie dann an mein Handgelenk gehören?

Die Zeit will ich in die Breite, nicht in die Länge leben. Und in die Breite lässt sich die Zeit nur leben, wenn man nicht weiß, wieviel Uhr es ist. Es sind nicht die Stunden, die ich leben will, ich will die von Situation zu Situation unterschiedlich langen und bunten Stündchen genießen. Ich gehöre zu den Zeitgenossen, die von der Erfahrung profitieren, dass die Stunden, die im Leben zählen, die Stunden sind, die nicht gezählt werden.

Glück und Zufriedenheit siedeln in den Regionen des zeitlich Unvermessenen, des Unbestimmten und Ungefähren. Denn was ist das für ein seltsames Vergnügen, sich von den Uhrzeigern sagen zu lassen, wann man sich freuen und amüsieren darf? Ich will auch nicht in einer Umgebung leben, in der der Blick auf den Chronometer den Menschen ein schlechtes Gewissen macht, wenn ihre Zeitnatur sie zum Trödeln und Bummeln, Zögern und Zaudern und Pausieren verführt. Und ich fühle mich auch dort nicht wohl, wo mich das Leben bestraft, wenn ich zu schnell bin und der Chef, wenn ich zu langsam bin. Die Zeit ist da, um gelebt zu werden, die Uhr, um sie zu messen.

Damit wir uns verstehen: Ich lebe nicht komplett ohne Uhr, ich trage nur keine. Ohne Uhr kann in unserer Gesellschaft kein Mensch vernünftig existieren. Der Wunsch, von der Technik und deren Entwicklung nicht behelligt zu werden, ist naiv und im Falle der Uhr unmöglich. Die Fahrpläne der öffentlichen Verkehrsmittel orientieren sich an der Uhrzeit, ebenso das Fernsehprogramm. Genauso erfordert ein Arztbesuch einen Uhrzeittermin. Kurz und bündig: Auch ich brauche selbstverständlich den Zeitmesser Uhr. Das aber ist noch lange kein Grund, sie kontinuierlich mit mir herumzuschleppen.

Zeitzufrieden und mit der Zeit in Frieden leben kann man nur dann, wenn man die Uhr hin und wieder ignoriert, sich ihrem Diktat ab und an entzieht, sie öfters keines Blickes würdigt. Nur wer der Verführung widersteht, im Takt der Uhr und ihrer Zeitanzeige das Maß und das Vorbild der Daseinsgestaltung zu sehen, kann die Zeit als Freundin gewinnen. Belohnt wird man dann mit den vielen ungeahnten Vergnügungen, Erfahrungen und Erlebnissen, die die Abwesenheit der Uhr und ihres Zeitdiktats zur Vorrausetzung haben. Das wollten uns die Brüder Grimm mit ihrem Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein erzählen, als sie das einzige Geißlein, das der Gefräßigkeit des Wolfs entkam, in den Uhrenkasten fliehen ließen. Also an einen Ort, an dem man weder Zeiger noch Ziffernblatt sehen kann. Nur dort kann man überleben.

Mit der Uhr und ihrer Zeit kann man im doppelten Sinne rechnen, man kann mit ihr planen und Ordnung machen. Leben aber, so wie ich mir das Leben vorstelle und wünsche, kann man mit der Uhr nicht. Da geht’s mir nicht anders als Johann Peter Hebel, der in einem Brief schreibt: „Es ist gar herrlich so etwas Vagabundisches in das Leben zu mischen (…) Man fühlt doch wieder einmal, dass man der Erde nicht angehört, und dass man ein freier Mensch ist, wenn man wie der Spatz alle Abende auf einem anderen Ast sitzen kann.” Das geht auch ohne Uhr und möglicherweise geht’s auch nur ohne sie. Kurzum, eine Uhr muss man nicht unbedingt tragen, es reicht völlig, sie zu ertragen.