Ein Blick über den Tellerrand
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Bewusstsein

Ein Blick über den Tellerrand

Dipl. oec. troph. Johanna Zielinski

In unserer Kultur wollen viele alt werden, aber nicht alt sein. Kein Wunder, denn Älterwerden und die damit verbundenen Probleme werden in unserer Gesellschaft weitgehend ignoriert. Anti-Aging-Maßnahmen bringen uns nicht weiter. Vielleicht hilft ein Blick auf andere Kulturen …

Mit gesenktem Blick betritt Titus sein spärlich eingerichtetes Haus. Eine seiner besten Freundinnen wurde heute beerdigt, gerade einmal vierzig Jahre alt. Sie hinterlässt zwei Kinder. Er sieht ernst aus. Die Fröhlichkeit und Leichtigkeit, die ihn sonst umgibt, scheint plötzlich von ihm gewichen zu sein.

In seinem jungen Leben hat er schon viele Bekannte, Verwandte und auch enge Freunde verloren – die Menschen in seinem kleinen afrikanischen Land leben ein weitaus kürzeres Leben als wir Europäer es gewohnt sind. Vielleicht leben sie deshalb im Hier und Jetzt, bewusster, fröhlicher – wohl wissend, dass am nächsten Tag alles anders sein kann.

Als ich ihm erzähle, wie sehr wir Europäer uns vor dem Alter und vor dem Altern fürchten und was wir alles tun, um jünger zu wirken und länger zu leben, erhellt sich sein Gesicht. Er schmunzelt und bricht schließlich in schallendes Gelächter aus. Angst vor dem Alter? Welche Gründe gibt es denn, Angst vor dem Älterwerden zu haben?

Als ich ihm die üblichen Bedenken, wie körperliche Gebrechen, Gedächtnisverlust, Langsamkeit, Hilfsbedürftigkeit etc. aufzähle, werden seine Gesichtszüge ernst. Er fragt mich, ob dies wirklich die Ängste sind, mit denen viele Menschen in unserem Kulturkreis leben und sieht mich ungläubig an. Für ihn sind das Luxusprobleme. Natürlich wissen auch die Menschen in seinem Land, dass das Älterwerden gewisse Einbußen mit sich bringt. Jedoch werden die Älteren und Alten hier verehrt. Hilfsbedürftigkeit ist kein Ausschlusskriterium aus der Gemeinschaft.

Jugendwahn und Angst vor Falten? Es gibt wirklich wichtigere Dinge, existenzielle Sorgen, die in unserem bequemen westlichen Leben in den Hintergrund rücken. Zum Beispiel haben wir eine weitgehend durchgängige Energie- und Wasserversorgung, die Gesundheitsversorgung ist gut ausgebaut und es besteht Zugang zu Bildung. Die Grundbedürfnisse sind gesichert, schwierig wird es mit den darüber hinausgehenden Bedürfnissen, die in unserer Gesellschaft geweckt werden und befriedigt werden wollen. Eine unendliche Spirale.

Wie privilegiert wir in Europa aufwachsen, ist uns im Alltag natürlich nicht bewusst. Erst durch den Blick über den Tellerrand, erkennen wir die Unterschiede. Wir können uns die Kultur, die Gesellschaft und die Lebensweise, in die wir hineingeboren werden und in der wir aufwachsen, nicht aussuchen. Unser Blick auf die Welt wird von ihr geprägt. Was wir aber tun können, ist von anderen Menschen und Kulturen zu lernen, eigene Defizite auszugleichen und selbst zu analysieren, was man eigentlich zu einem glücklichen, entspannten Leben braucht. Im Grunde nämlich nicht viel.

Was bleibt einem am Ende des Lebens, wenn man zurückblickt? Wovon zehrt man? Von den Besitztümern? Es gibt viele Senioren, die dies verneinen. Stattdessen bekommt man folgende Antworten: Die Augenblicke, die Weisheit, die Erinnerungen und Erfahrungen, die Beziehungen, die man pflegt, die Menschen, die man liebt und die Zufriedenheit mit dem eigenen Dasein – daraus entstehen Gedanken und Gefühle, die glücklich machen.

Statussymbole, materieller Konsum, Schönheitsoperationen – all das mag auf den ersten Blick helfen, mit dem Älterwerden umzugehen. Langfristig verlieren diese Dinge jedoch an Bedeutung. Der innere Reichtum ist das, was uns bleibt – bis zuletzt. Sollten wir demnach nicht das Älterwerden wertschätzen? Uns jeden Tag aufs Neue freuen, dass wir Erfahrungen sammeln dürfen? Dankbarkeit zeigen für kleine, liebevolle Gesten? Ein freundliches Kinderlachen bewundern?

Älter werden wir alle. Es ist wie das Sterben ein Schicksal, das uns ereilt und niemanden auslässt. Halten wir uns dies öfter vor Augen, fällt es leichter, loszulassen. Der Prozess des Alterns ist unaufhaltsam – wie jung wir uns dabei fühlen, was wir mit jedem Tag anfangen – das ist unsere Entscheidung. Für Titus und seine Freunde ist Älterwerden ein Segen – jeder Tag ein Geschenk. Jeden Tag mit einem Lächeln zu beginnen, mit positiven Gedanken mag auf den ersten Blick schwierig erscheinen. Doch wie heißt es so schön: „Übung macht den Meister“ und diese Aufgabe zaubert uns sympathische Lachfalten ins Gesicht.

Wenn Sie erstmal damit angefangen haben, dann wird es nicht lange dauern und Sie fühlen sich vitaler, kraftvoller und jünger – ganz ohne äußerliche Schönheitsbehandlung. Unsere innere Einstellung zum Leben spiegelt sich nach außen wider. Eine positive Sichtweise wirkt sich auch auf unseren Körper aus – man verspürt mehr Energie, Tatendrang und lässt sich nicht so leicht aus dem Gleichgewicht bringen. Augenscheinlich wird dies, wenn wir Menschen beobachten, die diese Einstellung leben. Dazu muss man nicht unbedingt nach Afrika gehen.