Was Corona uns heute lehrt
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Bewusstsein

Was Corona uns heute lehrt

Dr. phil. Christoph Quarch

In seinem vor fünf Jahren erschienen Weltbestseller „Homo Deus“ stellte Yuval Noah Harari nicht ohne Stolz fest, das Thema „Epidemien“ sei von der menschlichen Agenda verschwunden. Covid-19 alias „Corona“ spottet dieser Einschätzung: Zurzeit beherrscht nicht nur eine Epidemie, sondern eine Pandemie die Nachrichtensendungen weltweit.

Ein unscheinbares Virus bringt zustande, was menschlichen Ambitionen nicht gelungen ist: eine drastische Reduktion der CO2-Emissionen, ein Einbruch des Flugverkehrs, Konsumverzicht. Derweil taumelt die Weltwirtschaft, die industrielle Produktion wird zurückgefahren, Millionen Menschen bangen um ihre wirtschaftliche Existenz. Politikerinnen und Politiker müssen erkennen, dass sie die Verantwortung für den Bestand einer Gesellschaft nicht länger dem Markt überlassen können. Und jede bzw. jeder Einzelne muss sich dessen gewahr werden, wie fragil nicht nur das für so unerschütterlich erachtete politisch-ökonomische System ist, sondern auch der eigene Leib.

Corona stellt alles in Frage, woran wir bislang glaubten, und was wir für selbstverständlich hielten. Darin liegt aber auch eine Chance für uns alle. Bei aller Tragik einzelner Schicksale, an denen es nichts zu beschönigen gibt, sollten wir uns diese Gelegenheit nicht nehmen lassen. Das Virus könnte unser aller Lehrer werden, denn es ruft mit leiser, aber eindringlicher Stimme eben das, was einst unsere Kultur hervorbrachte: „Erkenne dich selbst!“ Dieses Wort aus dem antiken Delphi sagt, wofür die Zeit gekommen ist: eine geis­tige Quarantäne, um in uns zu gehen und zur Besinnung zu kommen. Wir müssen unsere Selbstverständlichkeiten und unser Selbstverständnis auf den Prüfstand stellen: unser Verhältnis zur Natur, unser Verhältnis zu anderen Menschen, unsere Ökonomie, unsere Politik, unsere privaten Prioritäten. Für die Zukunft der Menschheit wird entscheidend sein, ob wir den Mut aufbringen, auf den Anspruch von Corona verantwortungsvolle Antworten, die die Welt verändern müssen, zu geben. Die Richtung, die es dabei einzuschlagen gilt, nennt ein anderes Wort aus dem antiken Delphi: „Das Beste ist das Maß.“

Die Natur lässt sich nicht beherrschen

Im Jahr 1637 schrieb der Philosoph René Descartes, der Mensch sei „Herr und Meis­ter der Natur“. Das war der Startschuss zu einer beispiellosen Nutzbarmachung, Beherrschung und Zerstörung der Natur. Seither versucht der Mensch der Neuzeit, sich die Welt mit Wissenschaft und Technik dienstbar zu machen. Descartes glaubte, die lebendige Welt sei nichts anderes als eine große Maschine, die der Mensch gebrauchen könne. Heute meinen wir, sie sei ein einziger Datenbestand, den wir mit Hilfe unserer Maschinen berechnen und perfektionieren können.

Corona aber lehrt uns, dass das Leben ein fragiles Ereignis inmitten eines großen, wundersamen Schauspiels ist, das die Griechen phýsis nannten: Natur. Unvorhersehbares ist im Spielgeschehen der Natur durchaus vorgesehen. Die Quantenphysik lehrt, dass alles stets auch anders sein könnte – und dass unsere sichtbare und scheinbar so verlässliche Welt auf einem schwankenden Ozean von Möglichkeiten schwimmt. Mikroorganismen können jederzeit mutieren. Mikroben, mit denen wir eben noch in friedlicher Koexistenz lebten, können schlagartig zur Gefahr werden. „Alles fließt“, wusste schon Heraklit – ohne dass er dabei ahnte, dass dieser Planet mitnichten das „Dominium Terrae“ eines gottgleichen Menschentums ist, sondern das Imperium unermesslich vieler Lebewesen, deren unsichtbares Miteinander erst die Voraussetzungen schafft, unter denen Menschen leben können: Wir sind nur Gäste in einer von uns unbeherrschbaren Natur, die augenblicklich ihre Muskeln spielen lässt. Uns das im Zeitalter des Klimawandels zu Bewusstsein zu bringen und es zu beherzigen, ist die dringendste Lektion, die uns das Virus lehrt.

Wir müssen die Wildnis respektieren

Ob wahr ist, dass Corona auf einem Markt in der chinesischen Stadt Wuhan von einem Wildtier auf den Menschen übertragen worden sei, wird wohl nie zu klären sein. Nehmen wir fürs erste an, die offizielle Story stimmt. Dann hat sie das Zeug zu einem epochalen Mythos. Denn in ihr verdichtet sich das Drama unserer Zeit: der systematische und konsequente Übergriff des Menschen auf das nicht domestizierte, freie, wilde Leben – ein Angriff auf Millionen Tier- und Pflanzenarten, die wir ausgerottet haben, da wir sie auf dem Altar unserer grenzenlosen Gier geopfert haben. Weniger als 13 Prozent der Erdoberfläche werden noch als „Wildnis“ eingestuft. Alles andere hat der Mensch kolonialisiert und ist in Bereiche vorgedrungen, in denen er mit Mikroben in Kontakt kommt, die aus ihrem angestammten Habitat entfernt zu Pandemien und tausendfachem Tod führen können. Ob Corona, Aids, Ebola, Sars, Pest oder Grippe: Alle großen Seuchen haben wir von Tieren übernommen, deren Lebensform und -art wir konsequent missachteten. Dass ein Virus nun von einem wilden Tier auf Menschen übersprang und seither die Einrichtung der Welt gefährdet (und dabei am Ende wenig aggressiv ist), scheint beinahe ein Menetekel für die Welt zu sein: Ein Weckruf, Schluss zu machen mit den fortwährenden Übergriffen gegen die Natur, der dauernden Vergewaltigung ihrer jungfräulichen Wildnis. Vielleicht ist dies ihre letzte Warnung, denn die Wildnis war von jeher unerbittlich.

Verzichten ist möglich – und unerlässlich

Als vor nicht langer Zeit die Fridays-for-Future-Bewegung Fahrt aufnahm, wandte sich der öffentliche Diskurs für eine kurze Zeit der Frage zu, ob Konsumverzicht oder staatliche Verbote probate Mittel sein können, um den Herausforderungen des Klimawandels zu begegnen. Vor allem orthodoxe Anhänger der Doktrin des Wirtschaftsliberalismus taten sich in dieser Debatte mit markigen Worten hervor.

Christian Lindner etwa, Chef der Freien Demokraten (FDP), sagte: „Ich will nicht verzichten, und ich will auch nicht, dass andere verzichten müssen. Ich will durch Technik erreichen, dass die Menschen frei leben, sich frei bewegen können.“ Heute, in Zeiten von Pandemie und Shut-Down, klingt dieses Zitat wie die Reaktion eines bockigen Zwölfjährigen, der nichts verstanden hat. Dabei ist das die Lektion, die wir nun lernen müssen: In Krisenzeiten ist Verzichten eine Option. Und je eher man damit beginnt, desto besser. Was Corona betrifft, so haben wir in Deutschland vermutlich drei oder vier Wochen zu lange gewartet, hätten früher Grenzen schließen und Ski-Urlaube unterbinden müssen. Was den Klimawandel betrifft, so haben wir vermutlich drei oder vier Dekaden zu lange gezaudert. Wir müssen einsehen, dass die Zeit vorbei ist, in der wir ungestraft so tun können, als sei unser Wille das Maß aller Dinge – und nicht das faktische Sein dieser Welt, die verantwortliches Handeln von uns verlangt.

Corona lehrt uns jetzt, dass es möglich ist, Verzicht zu leisten. Ja, dass es viel leichter fällt, als wir alle dachten. Gewiss gibt es auch jetzt ein paar Vernagelte, die sich in Selbstmitleid ob des erzwungenen Verzichts ergehen. Aber die Mehrheit der Menschen scheint sogar in Deutschland zu erkennen, dass Verzichten sie nicht umbringt – dass Verzichten sie vielmehr bereichern kann: mit dem kostbaren Gefühl, das Richtige zu tun.

Egoismus ist out, Miteinander ist in

Die Wahrheit, die Corona lehrt, macht deutlich: Niemand ist der Herr und Meister seines eigenen Lebens. Alle sind wir unauflöslich eingebunden in ein umfassendes Netz des natürlichen und sozialen Lebens, das wir weder mit unserem Narzissmus ignorieren noch mit unserem Egoismus dominieren können. Wir müssen lernen systemisch zu denken. Wir sind, was wir sind, durch die systemischen Verbindungen, in denen wir zu anderen Menschen stehen, aber auch zu allen anderen Wesen der belebten Welt. Unsere Identität ist das Produkt unserer Beziehungen – und gerade nicht ein erratisches Ich, das sich Kraft seines Willens und Kraft seiner Macht die Welt nach seinem Bild bauen könnte. Das Coronavirus lacht ob solcher Hybris. Lebenskunst kann nicht länger Selbstoptimierung oder Steigerung der eigenen Macht bedeuten – sondern lediglich die Kunst der systemischen Interaktion und Kooperation. Natürlich liegt es auch an jedem Einzelnen, was er aus seinem Leben macht; aber nicht als mächtiger Potentat, sondern als achtsamer Partner einer kontinuierlichen Konversation mit anderen: mit anderen Menschen ebenso wie mit den anderen Wesen der Natur.

Nur wenn wir uns aus unserem Eingebundensein ins Große und Ganze der Welt heraus verstehen und darauf hören, was andere uns zu sagen haben, werden wir den Herausforderungen, vor denen wir stehen, begegnen können – ob es sich dabei um eine Pandemie, den Klimawandel oder die zu erwartenden ökonomischen und sozialen Turbulenzen handelt. Die Gebote der Stunde lauten: Interaktion, Solidarität, Miteinander. Auch wenn wir gut beraten sind, physisch Abstand zu halten, so müssen wir unser Gehirn auf Verbundenheit und Gemeinschaft umpolen. Das Zeitalter des Egoismus ist vorbei. Das Zeitalter der Solidarität muss nun beginnen.

Alleinsein ist gut, Gemeinschaft besser

Geistig-emotionale Verbindungen werden in Krisenzeiten besonders wichtig. Selbst wenn Alleinsein der vielleicht sicherste Virenschutz ist, so ist doch Einsamkeit die wahrscheinlich schlechteste Gemütslage, um all dem zu begegnen, was nun um uns herum geschieht. Es ist gut, Menschen um sich zu wissen, die ermutigen oder trösten, auf die man sich verlassen kann, die nach einem schauen, die Einkäufe erledigen oder uns gegebenenfalls ins Krankenhaus fahren. Auch wenn es altmodisch klingt: Zeiten wie diese zeigen auf, wie wertvoll Familie ist oder die Partnerschaft; selbst wenn sie uns zuweilen dazu zwingen, unliebsame Kompromisse zu schließen.

Wir können von Corona lernen, dass es gut ist, sich nach Lebensformen umzusehen, die Gemeinschaft und Solidarität mit anderen zulassen: In kleinen sozialen Verbänden lässt sich Quarantäne besser überstehen als allein; vielleicht in künftigen kleinen Senioren-WGs, deren Mitglieder sich umeinander kümmern und wechselseitig unterstützen, sich im Krisenfall jedoch auch in einen eigenen Bereich zurückziehen können. Der große Vorteil dabei wäre, dass sich niemand einsam und verlassen fühlen muss. Nicht die schlechteste Aussicht in einer Gesellschaft, in der Alterseinsamkeit zunehmend zum Problem geworden ist.M

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch: „Neustart. 15 Lehren aus der Corona-Krise.“ Es kann direkt beim Verlag bestellt werden: https://legenda-q.de