Medizinischer Alltag – jenseits der Naturheilkunde

Medizinischer Alltag – jenseits der Naturheilkunde

Liebe Leserin, lieber Leser,
da sich Anti-Corona-Maßnahmen momentan in eine gewisse Beliebigkeit aufzufasern scheinen, soll an dieser Stelle ein anderes Thema aufgegriffen werden, das in der Fachpresse vor Corona stark diskutiert wurde: erschütternde Berichte, denen zufolge etwa Rettungssanitäter, Polizisten, Feuerwehrleute beleidigt oder körperlich angegriffen werden. Auch in medizinischen Einrichtungen, insbesondere Notfallambulanzen, häufen sich entsprechende Vorfälle. Umfragen belegen: Mittlerweile haben drei von vier Mitarbeitern entsprechender Einrichtungen Erfahrung mit verbaler Gewalt oder körperlichen Übergriffen gemacht, was bei vielen Betroffenen langwierige psychische Traumata hinterlässt. Auch das ärztliche Personal in Praxen, Ambulanzen und Kliniken bleibt davon nicht verschont. Die Gründe für derartige Vorkommnisse sind sicher vielfältig, vom negativen Einfluss moderner Medien über zerrüttete Familienstrukturen bis hin zu Enge und Hektik in überlasteten Klinikambulanzen.

Wenn Politiker mit Sätzen wie „wir alle müssen gegen solche Gewalt aufstehen“ versuchen gegenzusteuern, wirkt dies eher wie ein Ausdruck von Schwäche und irgendwo auch wie ein Eingeständnis von „Staatsversagen“. Ebenso die jetzt überall zu hörende Forderung nach „härteren Strafen“. Wer ist denn in unserem Land Legislative und Exekutive? Die jeweiligen Parlamente, Regierungen sowie die Behörden von Bund, Ländern und Gemeinden. Politiker mit Einfluss sollten daher nicht fordern, sondern entsprechende Gesetze erlassen, und wenn sie der Meinung sind, die vorhandenen Gesetze reichen aus, müssten sie deren konsequente Durchsetzung betreiben – was bei massivem Personalmangel auch in den Justizbehörden allerdings leichter gesagt als getan ist.

Wenn ich die Forderung nach härteren Strafen höre, frage ich mich zudem: Hat es denn überhaupt schon einmal eine Strafe für Gewalt etwa gegen medizinisches Personal in Ambulanzen gegeben? Und, wenn ja, wie sah diese aus? Ein paar Tagessätze eines niedrigen Geldbetrags? Ein Bewährungsstrafeklaps? Eine Verurteilung zur Teilnahme an einem Antiaggressionstraining? Das mag polemisch klingen, aber in dem Moment, in dem ich dieses schreibe, lese ich in einer renommierten Zeitung: Frankfurter Kliniken erheben massive Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen in gemeldeten Fällen durchweg eingestellt hat, mit dem Argument, es bestünde kein öffentliches Interesse an einer Strafverfolgung. So falsch habe ich also mit meiner Vermutung nicht gelegen. Auch wenn ich in einer norddeutschen Zeitung lese, dass vor einem Bremer Gericht ein Verfahren gegen zwei „Großfamilien“ läuft, die in einer Klinikambulanz Pistolen gezückt haben sollen …

Was bleibt demnach übrig? Empfehlungen zur Teilnahme an einem Deeskalationstraining und Selbstverteidigungskursen sowie psychologische Unterstützung sind sicher gut gemeint und auch sinnvoll – aber in großen Notfallambulanzen wird es bis auf weiteres nur mit ständig präsentem und gut sichtbarem Sicherheitspersonal gehen, am besten kräftigen, respekteinflößenden Männern …

Haben sich eigentlich all die Sonntagsredner aus Politik und Verbänden schon einmal Gedanken gemacht, ob der zunehmende Mangel an medizinischem Fachpersonal nicht nur mit hoher Arbeitsbelastung und Bürokratie, sondern womöglich auch mit einem potenziell indiskutablem und bedrohlichen Arbeitsumfeld zu tun haben könnte?
Nachdenklich grüßt Sie Dr. med. Rainer Matejka