Der schmerzhafte Verlust der vier Heimaten

Der schmerzhafte Verlust der vier Heimaten

Liebe Leserin, lieber Leser,
neben Übergewicht zählen Rückenschmerzen zu den kostenintensivsten Beschwerdebildern überhaupt, da sie oft zu langem Krankenstand und Frühverrentungen führen. Obwohl man inzwischen viel mehr über die komplexen Ursachen des Rückenschmerzes weiß, sind die Behandlungsmethoden der „Rückenschmerzindustrie“ nahezu unverändert: immer noch zu viele Operationen und Schmerzmittelgaben über lange Zeiträume.

Dr. Wolf-Jürgen Maurer, Arzt für Psychosomatik und Psychotherapie, schrieb in dieser Zeitschrift, Schmerz sei stets ein psychisches Phänomen, das „im emotionalen Teil des Gehirns verschaltet und erst dann bewusst wahrgenommen“ werde. Demzufolge hätten gerade chronische Schmerzzustände vollständig oder teilweise psychische Ursachen. Seelischer Schmerz werde oft „symbolisch als körperlicher Schmerz dargestellt und erlebt“. Verinnerlicht man diese beachtenswerten Aussagen von Dr. Maurer, kommt man zu der Überzeugung, dass das Thema Schmerz in mehrfacher Hinsicht neu gedacht werden sollte.

Schmerzmediziner Prof. Dr. Dominik Irnich von der Universität München stellt in Anlehnung an die traditionelle chinesische Medizin einen weiteren Denkansatz in den Raum: den „Verlust der vier Heimaten“ als Ursache für chronische Rückenschmerzen. Demnach kann die erste Heimat (die Heimat der Kindheit), die Identität und Sicherheit schafft, nicht bleiben, weil es mit dem Ende der Kindheit für jeden heißt, Abschied zu nehmen. Das sei der normale Lauf der Dinge.

Die „Heimat als soziale Praxis“ als zweite Heimat bietet Sicherheit und Ordnung und auf Vertrauen und Verlässlichkeit aufbauende Beziehungen. Dieses soziale Ideal von Heimat verschwinde immer mehr – oft im Namen des Fortschritts.

Eine neue, von der Ökonomie dominierte Heimat wird immer größer und globaler und findet sich nicht mehr in der lokalen Gemeinschaft. Dementsprechend wird plötzlich das „lokale Sägewerk“ zu einem Großkonzern, was zu einer Art „ökonomischen Entheimatung“ führe, bei der auch der Nachbar nicht mehr so nötig sei.

Schließlich existiert Heimat als Bild und Erzählung. Nicht nur Krieg, Katastrophe und Änderung der politischen Ökonomie führen zu Landflucht und dem Verlust von Geborgenheit und Sicherheit. Deswegen könne oft nicht einmal mehr der Wunsch erfüllt werden, in der Heimat zu sterben. Jeder Mensch braucht aber einen Ort der Geborgenheit und Vertrautheit, sozusagen ein Ziel für das „Prinzip Hoffnung“, wie es der Philosoph Ernst Bloch formulierte.

Wenn diese Kriterien erfüllt würden, hätten wir auch weniger Rückenschmerzen, folgert Irnich. Ich finde diese Analogien sehr bemerkenswert. Sie auch?

Dr. med. Rainer Matejka