Das Knacken unter den Sohlen
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Bewusstsein

Das Knacken unter den Sohlen

Julia Kospach

Jemand erzählte mir einmal vom Rat eines buddhistischen Mönches, der lautete: „Wenn du Lust hast zu üben, übe! Wenn du keine Lust hast zu üben …, übe!“ Dieses Gespräch hatte ich im Kopf, als ich an diesem Tag aus dem Haus trat. Der Himmel war von einem bleiernen Grau. Die Wolken hingen tief. Ich hatte nicht die geringste Lust zu diesem Spaziergang.

Ich ging nur, um ein bisschen an die frische Luft zu kommen. Es war ein Wochenende mit massivem Schlechtwetter, nach eineinhalb Tagen im Haus lauerte der Lagerkoller. Ich zwang mich hinaus. Es würde mir guttun. Eine aufmunternde Übung sein. Das Wetter war elendiglich. So gut wie kein Schnee, dafür feucht, kalt und windig.

Ich setzte meine Wollmütze auf, zog die Schultern ein und den Schal hinauf und setzte mich mit raschen Schritten in Bewegung. Grimmig schaute ich auf den Boden, dachte trübsinnige Gedanken und haderte mit der Unwirtlichkeit der Landschaft, die ich an schönen Tagen so anders kannte. Ich nahm mir eine halbe Stunde Gehen vor, vielleicht eine Dreiviertelstunde. Mehr nicht, sicher nicht.

Ich ging schneller, stampfte durch den gefrorenen Matsch, der unter meinen Sohlen knirschte, in den Wald hinauf und den Forstweg entlang. Ich hörte meinen Atem, spürte, wie er schneller wurde, wenn der Weg hügelaufwärts führte. Ich nahm die Hände aus den Manteltaschen. Sie wurden langsam warm. Mit kleinen Stampfern trat ich in die gefrorenen Wasserlachen. Das Eis splitterte klirrend. Erst trat ich unlustig zu, schließlich mit einem Schwung, der mehr ein Abreagieren war.

Dann zogen die braunen Blätter am Wegrand, die in dieser schneearmen Winterwoche offen und nackt auf der Erde lagen, meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein jedes von ihnen trug am Rand einen Strahlenkranz spitzer, kunstvoll verästelter Eiskristalle. Auch jedes Holzstück, jeder Halm, jeder dünne Zweig war von filigranen, weißen Kristallen umgeben, die sofort zu einem rauen Pulver zerbröselten und auf der Haut zu Wassertropfen zusammenschmolzen, wenn man sie berührte.

Hier im Wald war der Wind nicht mehr so schneidend. Ich schaute mich um. Das satte Grün der mit Feuchtigkeit vollgesogenen Moospolster schimmerte leicht goldig. Zusammen mit dem Dunkelgrün der Fichtennadeln, dem Braunschwarz der Baumstämme und Äste und dem nebelig-feuchten Hintergrund ergab das eine seltsam entrückte Stimmung. Eigentlich schön, dachte ich.

Der Wald war still. Kaum ein Geräusch, alle Betriebsamkeit war wohlig gedämpft von kaltem Dunst und Eisfeuchte. Wie erstarrt und gleichzeitig in Watte gepackt lag alles da.

Lustlosigkeit wandelt sich in Freude

Ich marschierte weiter. Die Luft war kühl und frisch. Die Lähmung meiner am Kachelofen durchgewärmten, laschen Glieder wich langsam dem Vergnügen an der Bewegung. Die Körpermaschine kam wieder in Gang, nahm Schwung auf, spielte sich auf einen raschen Gehrhythmus ein und ratterte zunehmend fröhlich über die gefrorenen Furchen der Forststraße. Der graue Tag verlor seine Feindseligkeit. Ich fühlte mich wohl, ging jetzt aufrechter und immer weiter und noch weiter.

Erst nach dreieinhalb Stunden kam ich wieder zu Hause an. Die schwärmerischen Schilderungen meines herrlichen Spaziergangs an diesem grauen Tag konnte dort niemand nachvollziehen.

Autorin
Julia Kospach, Jahrgang 1968, studierte Linguistik und Slawistik in Wien und Paris und arbeitete im Feuilleton der Berliner Zeitung, als Literaturredakteurin für das österreichische Magazin Profil und als Mitarbeiterin André Hellers für dessen internationale Kunst- und Kulturprojekte. Seit 2006 ist sie als freie Autorin und Journalistin tätig.