Absurde Urteile, lähmende Bürokratie

Liebe Leserin, lieber Leser,

vernünftige rechtliche Regelungen im Gesundheitswesen sind für Patienten und Ärzte gleichermaßen von Nutzen. In der letzten Zeit machen jedoch eine Reihe zunehmend fragwürdiger Urteile und Rechtsnormen von sich reden: So wird z. B. in einem Gerichtsurteil die Kos­tenübernahme einer erfolgreich durchgeführten naturheilkundlichen Therapie bei Neurodermitis (nach zuvor wirkungsloser schulmedizinischer Therapie) mit dem Argument abgewiesen, die Methode sei „nicht anerkannt“. Maßgeblich für die Kostenübernahme ist demnach nicht die Wirksamkeit einer Methode, sondern einzig und allein ihre „Anerkennung“. Und anerkannt ist, so könnte man zynisch kommentieren, was eine gute Lobby hat …

Die Pflicht zur Aufklärung wurde Schritt für Schritt erweitert. Der Patient muss jetzt auch über seltene Nebenwirkungen aufgeklärt werden. Dies gilt besonders, wenn es sich um nicht-schulmedizinische Verfahren handelt. Viele verunsicherte Patienten werden unter diesen Umständen eine womöglich hilfreiche Therapie ablehnen. Die immer absurderen Beipackzettel bei pflanzlichen und homöopathischen Arzneimitteln enthalten neuerdings derart zahlreiche Warnhinweise und Einschränkungen, dass man auf den Gedanken kommen könnte, Schmerzmittel, Kortison und Magensäureblocker seien vergleichsweise harmlos.

Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilt einen Arzt, der zwar seiner Aufklärungspflicht nachgekommen ist, aber dies nicht eindringlich genug getan habe. Er hätte den Patienten von der Notwendigkeit und Dringlichkeit einer bestimmten Therapie gegen hohen Blutdruck überzeugen müssen, notfalls „bis hin zum Eklat“.  Heißt das so viel wie: den Patienten anzubrüllen und ihm zu drohen? Demnach dürfte der Patient keinerlei eigene Entscheidungs­befugnis mehr haben.

Mitunter widersprechen sich die Urteile eines Gerichts: In den 1990er Jahren urteilte ein Senat des Bundessozialgerichts, Patienten mit unheilbaren Krankheiten hätten Anspruch auf Kosten­übernahme auch alternativmedizinischer Leistungen. Ein anderer Senat des gleichen Gerichts kam zu dem Ergebnis, dass dies nur dann gelte, wenn diese Verfahren auch wissenschaftlich anerkannt seien. Was für ein „Schmarrn“! Wären sie anerkannt, wären sie ja längst Schulmedizin.

Ich will nicht unterstellen, dass hinter dieser Entwicklung „System“ steckt. Oft scheinen mir eigenartige Urteile auch durch Überforderung des Gerichts angesichts der oft komplexen Sachverhalte bedingt zu sein. Die überbordende „Gutachteritis“ mag dies belegen.

Therapeutisch tätig werden bedeutet immer auch Intuition und ein Stück „konkrete Philosophie“, wie es Carl Jaspers nannte, jedenfalls war es Jahrhunderte so. Heute bedeutet Medizin immer mehr die Beachtung diverser bürokratischer Vorschriften, oft praxisferner Rechtsvorgaben und zunehmend schematisierter Behandlungsrichtlinien. Was für bestimmte Notfälle hilfreich sein mag, erstickt den medizinischen Alltag. Wie unter diesen Aspekten eine „ganzheitliche und individuelle“ Medizin möglich sein soll – für die doch alle in Sonntagsreden immer wieder plädieren – ist mehr als fraglich.

Mit besten Grüßen