Befund oder Befinden: Wonach richten wir uns?

Liebe Leserin, lieber Leser,

Patientenbefinden und objektive Untersuchungsbefunde stimmen häufig nicht überein. Besonders bei Rücken- und Gelenkschmerzen ist das Phänomen verbreitet. Eine Untersuchung an Bundeswehrsoldaten vor einigen Jahren ergab, dass 40 % einen Bandscheibenvorfall hatten – ohne Beschwerden. Ähnliches gilt für Spinalkanalstenosen: Verengungen des Nervenkanals in der Wirbelsäule, sie werden für Rückenschmerzen verantwortlich gemacht. Eine heute nicht mehr existierende Spezialklinik in München wurde vor ein paar Jahren mit etlichen Prozessen überzogen, weil sie in großem Umfang derartige Befunde bei weitgehend symptomfreien Patienten operativ behandelt haben soll. Den umgekehrten Fall gibt es allerdings auch: Heftige Rückenbeschwerden treten trotz fehlender Befunde auf.

Das Problem der Nichtübereinstimmung von Befund und Befinden erstreckt sich auch auf andere Bereiche der Medizin. Aus Sorge vor Schlaganfall lassen immer mehr Menschen weltweit Ultraschalluntersuchungen der Halsschlagader durchführen. Der Sinnhaftigkeit dieser Methode wurde mittlerweile in großen Studien auf den Grund gegangen und das Ergebnis jetzt auf einem Kongress in Raleigh/Durham im US-Bundesstaat North Carolina vorgestellt. Demnach bergen Untersuchungen an der Halsschlagader nicht unbeträchtliche Risiken. Die Genauigkeit der Ultraschallergebnisse ist im Einzelfall zweifelhaft, so dass oft weitergehende Gefäßuntersuchungen – invasive Verfahren mit Kathetern und Kontrastmittel – folgen, die nicht ungefährlich sind. Im Rahmen dieser Methoden können sich Ablagerungen an der Gefäßwand ablösen und genau das auslösen, was eigentlich verhindert werden soll, nämlich Schlaganfälle.

Die Untersuchungen zeigen zudem zu oft „falsch-positive“ Befunde, d. h. es sieht so aus, als würde es sich um behandlungsbedürftige Ablagerungen handeln, die dann zum Teil operative Eingriffe nach sich ziehen. Die Todesrate nach Operationen an der Halsschlagader soll in den ersten 30 Tagen bei 2 % liegen – in manchen Zentren sogar bis zu 6 % betragen. Bei Einsetzen von Stents in diesem Bereich beläuft sich die Schlaganfall- und Todesrate auf 3,1–3,8 %. Außerdem können um die Operation herum andere Risiken entstehen – etwa Herzinfarkte –, von Thrombosen aller Art und Wundheilungsstörungen einmal abgesehen.

Die Empfehlung der US-Experten lautet daher: Bei Patienten ohne Beschwerden (z. B. Schwindel), die auf eine Kopfdurchblutungsstörung hinweisen: Hände weg von der Halsschlagader! Selbst bei 90-prozentigen Verengungen sind die Patienten mitunter völlig symptomfrei, vermutlich da sich im Laufe der Zeit natürliche Umgehungskreisläufe gebildet haben. Wichtig wäre, die Ursachen der Gefäßveränderungen zu behandeln: Bluthochdruck, Rauchen, Diabetes, Fettstoffwechselstörungen. Dabei stehen laut den US-Experten gesunde Ernährung und eine körperlich aktive Lebensweise im Vordergrund. Und damit wären wir wieder bei den klassischen Naturheilverfahren.

Allerdings, die „Komplementärmedizin“ hat sich in den letzten Jahren teilweise ebenfalls mit ausufernder Diagnostik hervorgetan, die zwar meist nicht gefährlich ist, in ihrer Relevanz für die Therapie aber mitunter fraglich. Auch in der Naturheilkunde sollte sich der Umfang der Therapie in der Regel nach Beschwerden, Einschränkungen (etc.) des Patienten richten und weniger die bloße Normalisierung von Mess-
ergebnissen zum Ziel haben.

Mit besten Grüßen

Ihr Dr. med. Rainer Matejka