Ein Organ ­wird entdeckt

Liebe Leserin, lieber Leser,

wenn man mich fragt, welche Fortschritte es in der Medizin der letzten Jahrzehnte gegeben hat, denke ich in erster Linie an technische Neuentwicklungen in der Diagnostik, etwa das MRT alias „Kernspin“: ein schmerzfreier Blick ins Innere – ohne Röntgenbestrahlung.

Ein Organ war trotzdem bislang eine  „Black Box“, bei der man sich mit der Diagnostik äußerst schwer tat: der Dünndarm. Dementsprechend selten wurden  Krankheitsbilder und Störungen des Dünndarms erkannt bzw. den Dünndarm betreffende Diagnosen gestellt. Und dies, obgleich er das entscheidende Verdauungsorgan darstellt, in dem Nährstoffe, Vitamine und Mineralien aus dem Speisebrei aufgenommen werden (sollten). Gleichzeitig beherbergt er den Hauptanteil des lymphatischen Systems, stellt also auch ein Zentrum des Immunsystems dar.

Die klinische Medizin bietet zwei neue Untersuchungsmöglichkeiten, die seit wenigen Jahren im Einsatz sind. Bei der Kapselendoskopie wird eine Minikamera verschluckt, deren Weg durch den Dünndarm auf einem Bildschirm verfolgt werden kann. Vor allem beim Verdacht auf Darmblutungen, aber auch bei chronischer Darmentzündung (Morbus Crohn) bietet sich diese Methode an.

Die Doppelballonendoskopie ermöglicht die Spiegelung des gesamten Dünndarmes! Das Verfahren ist aber sehr aufwendig: In einer ersten Sitzung werden die oberen dreieinhalb Meter des Dünndarms gespiegelt, wobei dieser durch zwei Doppelballone fixiert und gleichsam aufgefädelt wird. Am folgenden Tag können dann die unteren dreieinhalb Meter sozusagen „von der Rückseite“ her gespiegelt werden. Zwei Ärzte und zusätzliches Hilfspersonal sind pro Arbeitsgang jeweils zwei Stunden beschäftigt, und dies an zwei Tagen hintereinander. 2001 in Japan entwickelt, wurde diese Methode 2004 in Deutschland eingeführt. Heute wird sie bereits an 165 Zentren praktiziert.

Mehrere interessante Ergebnisse dieser modernen Techniken konnten bereits zutage gefördert werden: Vor allem Rheumamittel und Aspirin erzeugen offenbar häufiger als gedacht Schleimhautblutungen. Oft wurde behauptet, Tumoren könne es im Dünndarm nicht geben. Die neue Technik zeigt: doch, es gibt sie, wenn auch nicht so oft.

Vor allem aber: die Krankheit Zöliakie (Intoleranz auf das Getreideeiweiß Gluten), auch „einheimische Sprue“ genannt, tritt deutlich häufiger auf als gedacht. In eine ähnliche Richtung deuten seit einigen Jahren Antikörpertestungen. Nicht nur das Symptom Durchfall – wie im Lehrbuch beschrieben – kann ein Hinweis auf die Zöliakie sein, sondern auch Bluthochdruck, Depression und Verstopfung!

Nimmt man die Möglichkeiten der modernen Stuhldiagnostik hinzu, die inzwischen weit mehr bietet als nur die Untersuchung der „Darmflora“, dann können wir heute erheblich mehr über ein Organ sagen, über das bislang weitgehend spekuliert wurde.

Übrigens bietet gerade die Naturheilkunde bei den oft etwas verzwickten Diagnosen gute Therapieansätze. Wir werden darauf zurückkommen.

Bis bald, mit bestem Gruß