Experten auf Irrwegen

Liebe Leserin, lieber Leser,

wir hören, in der Informationsgesellschaft verdopple sich das Wissen in wenigen Jahren. Auch in der Medizin nehme das Wissen und damit der Fortschritt rasant zu.
Mit dem Wissenszuwachs ist zwangsläufig eine extreme Spezialisierung des Wissens verbunden und teilweise auch notwendig. Bei allen Vorteilen, die das in Teilbereichen mit sich bringen mag, droht der Überblick verloren zu gehen – die Beachtung grundlegender immerwährender Wahrheiten, die gerade im größten Informationschaos Richtschnur sein können.
In der Tageszeitung lese ich: „Die Welt hat sich in ein großes Schachbrett verwandelt, auf dem immer mehr Spezialisten damit beschäftigt sind, auf immer kleineren Flächen immer tiefer zu bohren. Sie machen es den wenigen, die den Überblick behalten wollen und sich der Parzellierung widersetzen, schwer.“
In derselben Tageszeitung lese ich ein paar Seiten weiter von einem Genetik-Professor: „Im Prinzip ist das Leben ein Rechenprozeß“ und „Der Mensch ist das Produkt des Genoms in der Umwelt“. Auf so einen Reduktionismus können nur „Fachleute“ kommen.
Angesichts des Informationschaos geht für den einzelnen Bürger der Überblick verloren. Das erzeugt Angst. Auch politisch Verantwortliche können viele Dinge nicht mehr überblicken. Der Ruf nach „Experten“ an allen Fronten wird laut. Theoretikern wird dabei meist eher vertraut als Praktikern mit vor-Ort-Erfahrung. Dieses Problem zieht sich durch alle Sektoren der Gesellschaft: von der Ökonomie und Technologie an-
gefangen über Kriminalistik bis in den Agrar- und Gesundheitssektor hinein.
Tatsächlich sind zahlreiche Probleme in unserem Gesundheitswesen oder jüngst in der Agrarwirtschaft wohl auch deshalb entstanden, weil stets nur „Experten“ (und Lobbyisten) im Spiel waren. Hätte man mehr auf Pragmatiker gehört, auf das kritische Dazwischenfragen des unbefangenen Bürgers – manches Problem hätte in seiner Tragweite ganz anders eingestuft und vorzeitig entschärft werden können, zum Beispiel die aktuell aus der Massentierhaltung entstandenen Probleme.
„Ernährungsexperten“ erklären uns jetzt mit intellektuellem Gehabe, auch eine vegetarische Ernährung müsse „nicht ungesund“ sein, und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) hat ihre rohe Rinderleber, die in zahlreichen Vitamin- und Mineralstoffstatistiken die Hitparade anführte, klammheimlich verschwinden lassen. Nur die CMA (Centrale Marketinggesellschaft der Agrarwirtschaft) treibt weiter ihr übles Spiel der Verbraucherdesinformation und behauptet anläßlich der Grünen Woche in Berlin auf Plakaten: „Futtermittel sind sicher“ und „Der Landwirt weiß genau, welche Inhaltsstoffe in Futtermitteln enthalten sind“.
Schon Hippokrates formulierte die Jahrtausendleitlinie der gesunden Ernährung: sparsamer Umgang mit Tierprodukten, Bevorzugung pflanzlicher Frischkost. Phantastisch, daß nun auch „Experten“ nach jahrzehntelanger Forschung und diversen Irrwegen zu dieser Erkenntnis zurückgelangen.
Man möchte wünschen, daß in allen Bereichen unseres Lebens Detailwissen und Grundlagen, Theorie und Praxis besser verschmelzen würden. Für den betroffenen Bürger empfehle ich bei widersprüchlicher und verwirrender Informationsflut, sei es im Medizinbereich oder anderswo: mehrere Meinungen anhören, die Tiefe und Logik der Argumentation wägen, sich nicht drängen lassen, um schließlich zu einer ausgewogenen Entscheidung zu kommen.