Irrungen und Wirrnisse der Diabetologie

Liebe Leserin, lieber Leser,

Anfang der 1980er Jahre wurde in diversen Seminaren und Vorlesungen mit erhobenem Zeigefinger gelehrt, dass „früher“ beim Altersdiabetiker eingesetzte Medikamente völlig tabu seien, wegen gefährlicher Nebenwirkungen auf den Stoffwechsel. Gut 25 Jahre später sind die damals als altmodisch und gefährlich eingestuften Präparate längst wieder Standard und die in den 1980er Jahren propagierten Sulfonylharnstoffe, die die Bauchspeicheldrüse zu einer erhöhten Insulinausschüttung antreiben, ziemlich „out“.
Die „intensivierte“ Insulintherapie, auf die einige Betroffene heute eingestellt sind, ähnelt in etlichen Punkten den in den 1950er Jahren verbreiteten Konzepten, jeweils vor einer Mahlzeit eine entsprechende Menge eines schnell wirksamen Insulins („Alt-Insulin“) zu spritzen. Die zwischenzeitliche Dominanz von Kombi-Insulinen konnte sich in vielen Fällen nicht durchsetzen.

Es gibt noch mehr ehemals „neue Erkenntnisse“, die mittlerweile kassiert werden mussten. Mit Fruchtzucker hergestellte Nahrung, hieß es beispielsweise, sei für den Dia­betiker besonders geeignet, weil Fruchtzucker insulinunabhängig verstoffwechselt werde. Die Aussage gilt aber nur für geringe Fruchtzuckermengen. Der heutige Mensch wird jedoch mit Fruchtzucker als billigem Süßungsmittel förmlich „zugedröhnt“. Und dann gilt: Fruchtzucker hemmt natürliche Appetitzügler („Leptine“), feuert den Fettaufbau und somit Insulinbedarf und Übergewicht an.

Selbst die Berechnung des Insulinbedarfs nach Broteinheiten bzw. Kohlenhydrat­mengen ist ziemlich ­fragwürdig. Neuere Erkenntnisse zeigen nämlich: Der Insulinbedarf hängt nicht nur von der Kohlenhydrat­menge ab, sondern auch von der Kombination der Kohlenhydrate mit anderen ­Nahrungsmitteln. Bei Eiweiß-Kohlenhydrat-Ge­mischen, also etwa Fleisch mit Kartoffeln, ist er deutlich höher als bei reinen Kohlen­hydratmahlzeiten.

Jahrelang wurde behauptet, die Einstellung des Diabetikers – mit Medikamenten – könne gar nicht streng genug sein, da schon bei geringfügigen Abweichungen des Blutzuckerspiegels schwere Komplikationen, etwa am Gefäßsystem bzw. den Augen zu erwarten seien. Plötzlich wird nun vor einer zu strengen Blutzuckereinstellung gewarnt, da vor allem durch Insulin und Tabletten ausgelöste Unterzuckerungen hochgradig gefährlich seien. Die ACCORD-Studie weist nach, dass in vielen Fällen eine etwas laxere Blutzuckereinstellung mit geringeren Raten an Herzinfarkten einhergeht als sehr strenge Einstellungen.

Die lange Liste der Irritationen in und durch die Diabetologie geht weiter: In einer Tageszeitung behauptete ein Experte, Diabetes könne jeden treffen, egal wie gesund sich jemand ernähre. Diese Aussage mag nicht völlig falsch sein, aber sie birgt einen falschen Drall: Auch wenn gesunde Ernährung nicht immer vor Diabetes schützt, kann sie die Erkrankungsrate und Intensität deutlich abmildern.

Renommierte Diabetologen sind sich einig: 90 Prozent der Altersdiabetiker könnten ohne Insulin und Tabletten gut behandelt werden, wenn sie das Gewicht normalisieren, sich vernünftig ernähren und regelmäßig Sport treiben würden. Bleibt zu wünschen, dass endlich mehr Fachkollegen ­diese Erkenntnisse beherzigen.

Frohe Festtage und einen guten Start ins neue Jahr wünscht Ihnen herzlich