Kamille? Nie gehört!

Liebe Leserin, lieber Leser,

unter den immer weiter um sich greifenden Befindlichkeitsstörungen, bei denen sich keine spezielle Organdiagnose nachweisen läßt, nehmen Beschwerden des Verdauungstraktes breiten Raum ein. Besonders Reizdarmsyndrome, Blähbäuche, Sodbrennen sowie Druckgefühl im rechten Oberbauch bleiben in ihren eigentlichen Ursachen oft ungeklärt. Wenn schon nicht unterstellt wird, die Beschwerden seien „rein psychisch“, werden in der Regel symptomatische Therapien eingesetzt.
In den vergangenen Jahren wurden gerne sogenannte „Motilitätsanreger“ verwendet. Dabei handelt es sich um Arzneien, die die Muskelwelle des Magen-Darm-Traktes aktivieren. Besonders bei Völlegefühl, Aufstoßen und dem Eindruck, der Magen entleere sich nicht richtig, wurden diese Präparate rezeptiert. Sie waren klinisch getestet und wurden in der Fachpresse und auf Fortbildungsveranstaltungen als „Mittel der ersten Wahl“ angepriesen. Klammheimlich ist nun eines der führenden Präparate auf diesem Sektor aus dem Verkehr gezogen worden wegen unkalkulierbarer Nebenwirkungen. In Einzelfällen sollen sogar Todesfälle vorgekommen sein.
Auch in der Diskussion über Helico-bacter pylorii (siehe Naturarzt 1/2001, 7/1997) zeigen sich Trendwenden. Galt einst bereits das Vorhandensein von Helicobacter als absolute Therapieindikation (wegen der Häufung von Magenkrebs bei Nachweis von Helicobacter), wird eine solche jetzt nur noch bei einigen Indikationen, zum Beispiel (gutartigen) Magengeschwüren, empfohlen. In einer Studie wurde sogar behauptet, möglicherweise stelle der Helicobacter eine Art Schutzfaktor für die Entstehung des Speiseröhrenkrebses dar und seine Bekämpfung sei möglicherweise ein zweischneidiges Schwert.
Fragt man auf einer gastroenterologischen Fortbildungsveranstaltung den Referenten nach der Wirkung von Kamille, etwa bei Reizdarm oder Magenschleimhautentzündungen, antwortet dieser, er könne dazu nichts sagen. Insistiert man und fragt nach, ob etwa die Wirkung der Kamille wissenschaftlich nicht nachgewiesen sei, lautet die Antwort, er selbst habe keinerlei Erfahrung mit dem Einsatz von Kamille… Propagiert werden statt dessen teure Säureblocker, wohingegen eine Rollkur mit Kamille bei leichten bis mittelschweren Beschwerden ausreichen könnte.
Fragt man den Experten weiter, welche Ernährungsform bei Verdauungsstörungen sinnvoll sei, wird reflexartig geantwortet, eine Magen-Darm-Diät gäbe es nicht. Mag ja sein, daß es keine Einheitsdiät gibt. Sicher ist aber, daß insbesondere das Weglassen von schwer verdaulichen und gärungsfreudigen Nahrungsmitteln in jedem Falle ratsam ist (siehe auch Bericht Seite 14). Hierzu gehören Zucker, mitunter bei akuten Reizsymptomen auch Rohkost, grobes Getreide, Gebratenes, Räucherwaren, Kaffee und Früchtetees. Umgekehrt fährt man am besten mit einer auf Bekömmlichkeit getrimmten und schwerpunktmäßig auf Kartoffeln und Gemüse zurückgreifenden „vollwertigen Schonkost“.
Insofern ist die Unterstellung, es gäbe keine Magen-Darm-Diät, nicht Ausdruck wissenschaftlicher Avantgarde, sondern vielmehr Zeichen des völligen Desinteresses in der Erforschung moderner Ernährungsformen unter klinischen Bedingungen. Wo manches durch ein paar geschickte Schachzüge mit Korrekturen im Ernährungsbereich und einigen unterstützenden einfachen Pflanzen-Kombinationen nachhaltig gebessert werden könnte, werden aufwendige und mitunter risikoreiche pharmakologische Dauertherapien eingeleitet. Das Ganze heißt dann Qualitätssicherung.