Naturheilkunde jenseits der Umfragewerte

Liebe Leserin, lieber Leser,

wir hören es auf Festansprachen seit fast 20 Jahren: Immer wieder bestätigen Umfragen, 80 Prozent der Bevölkerung sind angeblich für Naturheilkunde. Wenn ich solche Zahlen höre, kommen mir bestimmte Bilder in Erinnerung:

In einer größeren geselligen Runde werde ich von einer Dame – ihr Alter schätze ich auf etwa 65 Jahre – angesprochen. Sie wirkt etwas füllig, lymphgestaut, macht ein wenig den Eindruck, als ob der Körper „entgiftet“ werden müsste. „Hallo Sie“, beginnt die Dame ein Gespräch. „Sie sind doch Hämo-path … Mir tun seit zwei Jahren alle Knochen weh, die Ärzte sagen, es sei Verschleiß und das Alter. Die Medikamente vertrage ich nicht. Außerdem bin ich gegen Chemie. Sie haben doch sicher etwas Natürliches, das rasch hilft.“ – „Selbstverständlich“, entgegne ich, „da habe ich genau das Richtige für Sie. Und zwar eine völlig arzneifreie Therapie: Das Beste wäre eine konsequente Ernährungsumstellung, z. B. ein Tiereiweißfasten oder vorübergehend sogar eine Rohkosternährung. Dies würde aber bedeuten, lieb gewonnene Ernährungsgewohnheiten einzustellen bzw. zu verändern.“ Ich gebe zu, der Gesichtsausdruck der so Angesprochenen erzeugt in mir selbst heute noch ein gewisses Schmunzeln: Eben noch freudig und neugierig, verwandelt er sich in Sekundenschnelle über Ratlosigkeit in lähmendes Entsetzen.

Nachdem sich die Dame wieder gefasst hat, fragt sie, ob das Ganze denn nicht auch einfacher ginge, z. B. mit „anständigen“ Tropfen oder Tabletten. Ich entgegne, dass es sehr wohl sinnvolle naturheilkundliche Medikamente gibt, die unterstützend helfen können. Aber keines erreiche eine Durchschlagskraft wie die Ernährungsumstellung.

Damit war das Gespräch beendet. Mehrere Monate später hörte ich über verschiedene Ecken, dass die Dame mittlerweile im Krankenhaus ein künstliches Gelenk erhalten habe und dabei „verpfuscht“ worden sei. Es habe erhebliche Wundheilungsstörungen gegeben (bei massiven Lymph- und Stoffwechselbelastungen keineswegs ungewöhnlich). Außerdem sei im Rahmen der Reha-Kur auch noch eine Thrombose aufgetreten. Die Frau sei sehr enttäuscht, aber die Ärzte wissen halt alle nicht mehr weiter …

Dieser „Fall“ könnte exemplarisch für viele ähnliche stehen. Er spiegelt wider, wie viele Menschen wirklich zur Naturheilkunde stehen oder was sie darunter verstehen. Es mag ja sein, dass die Nachfrage nach allen möglichen Wellness- und Fitness-Angeboten und vielleicht auch nach biologischen Medikamenten zugenommen hat. Prinzipiell ist das erfreulich. Doch die Beliebtheit der klassischen Naturheilkunde à la Kneipp & Co., zu der eben auch Maßhalten und Verzicht gehören, nimmt flächendeckend nicht zu, sondern ab. Dennoch gibt es Lichtblicke: Immer wieder bin ich erstaunt, wie viele jüngere Patienten von sich aus schon längst eine vegetarisch betonte Ernährungsweise bevorzugen. Nicht weil jemand sie missioniert hat, sondern weil sie einfach überzeugt sind, dass dies sinnvoll ist – aus gesundheitlichen, ökologischen und ökonomischen Gründen. Naturheilkunde ist eben immer ein Stück Eigenleistung oder wie es einst Julius Hackethal ausdrückte: „Gesundheit ist Fleiß“.

Mit den besten Grüßen