Nicht immer hilft der letzte Schrei

Liebe Leserin, lieber Leser,

immer wieder begegnen mir Patienten, die beim „Spezialisten“ waren, um ihren erhöhten Blutdruck behandeln zu lassen. Der hatte ihnen ein Arzneimittel verordnet, zum Beispiel einen sogenannten AT-1-Kanal-Rezeptorenblocker oder ACE-Hemmer mit der Bemerkung, dies sei ein besonders gutes Präparat, weil es das neueste auf dem Markt sei. Ähnlich argumentierte kürzlich ein Medizintheoretiker „vom grünen Tisch“ mit seiner Forderung, die Ärzte sollten endlich mehr innovative Pharmaka einsetzen, dann könnte nachhaltig Geld gespart werden.
Nun mag es zutreffen, daß das neueste Automodell mit den besten technischen Raffinessen ausgerüstet ist. Ob es sich im Alltag bewährt, muß sich allerdings erst zeigen. Auch bei neuen Arzneimitteln gilt: Trotz guter Ergebnisse in langwierigen Prüfungsphasen und „signifikanter“ Wirkungen in zahlreichen Studien bedeutet dies nicht, daß das Medikament sich für den langfristigen Einsatz in der Hausarztpraxis eignet. Wirkung im Versuch, Wirksamkeit und Verträglichkeit am Patienten sind nicht immer identisch.
Ein neues Medikament, das ursächlich an einem Problem arbeitet, stellt gewiß einen Fortschritt dar. Ich kann aber nicht erkennen, wo auf dem Sektor der Bluthochdruckbehandlung die oft behaupteten fundamentalen Fortschritte sein sollen. Letztlich handelt es sich um symptomatische Therapien. Durch eine blutdrucksenkende Substanz werden irgendwelche Rezeptoren blockiert, Systeme aktiviert oder inaktiviert, um so Einfluß auf Herzarbeit, den Spannungszustand der Gefäße und das Blutvolumen zu nehmen. Setzt man das Mittel ab, tritt der alte Zustand wieder ein. Eine kausale Therapie durch Medikamente allein – ohne Änderung des Lebensstils –, ist nicht möglich.
Bei der Behandlung des Bluthochdrucks wurde in früheren Jahren Rauwolfia, ein pflanzliches Mittel aus Schlangenwurz, eingesetzt. Es handelt sich dabei um eine stark wirksame Heilpflanze, die auch ein gewisses Nebenwirkungspotential aufweist. Depressive Verstimmungen können in seltenen Fällen verstärkt werden, obendrein ist häufiger eine verstopfte Nase zu beobachten. Andererseits wirkt Rauwolfia vegetativ ausgleichend, paßt also ganz besonders für Patienten, die aufgrund von Streß und innerer Unruhe zu Blutdruckanstiegen neigen. In vielen Fällen konnten diese Patienten dadurch eine ganze Reihe von viel teureren, modernen Hochdruckmitteln „einsparen“.
Vor einem Jahr wurde nun das letzte dieser Präparate vom Markt genommen. Nicht, weil es schlimme Nebenwirkungen aufwies, sondern ganz einfach deshalb, weil es aus der Mode gekommen war und für den Hersteller keine Möglichkeit mehr bestand, das Produkt noch konkurrenzfähig am Markt zu halten.
Man erinnerte sich daher – bei Patienten, die mit modernen Blutdruckmitteln nicht zurecht kommen – eines alten Kombinations-Präparates, das schon vor Jahrzehnten in den Hausarztpraxen Verwendung fand. Es wirkt auch heute noch, läßt sich fein dosieren und ist relativ sanft. Zumindest für leichtere Formen des Bluthochdrucks reicht dieses Präparat oft völlig aus. Trotzdem sieht die moderne klinische Medizin auch dieses als überkommenen Ladenhüter an, den man heute nicht mehr verordnet. Was lernen wir daraus?
Das angeblich Neueste muß noch lange nicht das Beste sein. Häufig ist es nur teuer und von rein wirtschaftlichen Interessen in den Markt gepeitscht. Mit dem altbewährten Produkt würde man zu einem viel günstigeren Preis mindestens genauso gut fahren und wüßte genau, was man an positiven und eventuell negativen Wirkungen zu erwarten hat.