Risikofaktoren sollte man ernst nehmen!

Liebe Leserin, lieber Leser,

Im vergangenen Jahr hielt ich vor Therapeuten einen Vortrag zum Thema Herzrisikofaktoren. Ich hatte noch keine drei Sätze gesprochen, da verließ schon ein Teilnehmer unter Protest den Saal. Offenbar war es für ihn unerträglich zu hören, daß ich eine ungünstige Cholesterinrelation als Risikofaktor bezeichne. Jeder müßte doch heute wissen, daß dies eine Lüge sei. Und genauso beim erhöhten Blutdruck: Die internationalen Expertenkommissionen hätten doch nur die neuen Grenzwerte auf 130/80 mm Hg und darunter festgelegt, damit die Pharmaindustrie ordentlich blutdrucksenkende Medikamente verkaufen könne.

Sicherlich steckt die Pharmaindustrie hinter vielem, und sie hat zweifellos ein Interesse daran, durch möglichst strenge Grenzwerte hohe Umsätze zu erzielen. Trotzdem sind Herzinfarkt- und Schlaganfall-Risikofaktoren nicht ihre Erfindung. Dies zeigen statistische Auswertungen, aber auch die persönliche Erfahrung mit entsprechenden Patienten: Menschen, die einen Herzinfarkt oder Schlaganfall ohne jegliche Risikofaktoren bekommen, sind mir nicht bekannt. Wenn es nur einer ist, findet sich oft der erhöhte LDL-Spiegel bzw. ein ungünstiges Verhältnis „schlechter“ Cholesterine zu  „guten“, gefäßschützenden HDL-Cholesterinen. Dies unterstreicht übrigens, daß Cholesterinwerte nur dann aussagekräftig sind, wenn man den Gesamtcholesterinwert in „gute“ und „schlechte“ Anteile differenziert.

Bei Schlaganfallpatienten sind oft die Angehörigen erstaunt, wieso ausgerechnet ein vor Gesundheit strotzender Mensch ein solches Ereignis erleiden mußte. Forscht man nach, stellt sich heraus, daß der Betreffende meist an einem nicht gut eingestellten Blutdruck litt – manch einer wußte nicht einmal von seiner Hypertonie – oder noch weitere Risikofaktoren aufwies.
Insofern sollte man mit Schwarz-Weiß-Malerei gerade bei Risikofaktoren äußerst zurückhaltend sein. Ein einzelner, kaum ausgeprägter Faktor bei einem Menschen, dessen Angehörige alle gesund waren und alt wurden, muß sicher nicht um jeden Preis behandelt werden. Anders sieht es aus, wenn Familienangehörige in frühen Jahren an Herz-Kreislauf-Krankheiten verstorben sind.

Gerade beim hohen Blutdruck fällt auf, daß immer mehr Menschen auch bei gesunder Lebensführung mit guter Ernährung, normalem Körpergewicht, ausreichend Bewegung und regelmäßig durchgeführten Entspannungsübungen trotzdem keinen normalen Blutdruck zustandebringen. Hier mag der heute so viel zitierte Streß eine entscheidende Rolle spielen. Wenn alle Stricke reißen und naturheilkundliche Maßnahmen allein nicht ausreichen, muß unter Umständen der Einsatz stärker wirkender Arzneien erwogen werden.

Man sollte auch nicht sagen, ab einem gewissen Alter habe der erhöhte Blutfettspiegel oder der erhöhte Blutdruck überhaupt keine Bedeutung mehr. Im Gegenteil: Durch im Alter zunehmend brüchiger werdende Gefäße kann ein zu hoher Druck um so fatalere Folgen haben. Auf der anderen Seite darf im höheren Alter der Druck nicht zu radikal gesenkt werden, dann könnte eine Mangeldurchblutung entstehen. Viel Fingerspitzengefühl und eben genau das, was viele fordern und möchten, nämlich eine individuelle Therapie, helfen aus dem Dilemma.

Trotzdem gilt: Risikofaktoren sollte man ernst nehmen! In diesem Sinne und mit besten Grüßen