Risikomanagement oder: Selbstmord aus Angst vor dem Tod

Liebe Leserin, lieber Leser,

schon seit Jahren finden sich in zahlreichen Ärztezeitungen medizinische Fachberichte erst im hinteren Teil. Statt dessen treten auffallend häufig neue Themen an die vordere Stelle:

• Steuerberater warnen, dass jederzeit unangekündigt staatsanwaltschaftliche Durchsuchungen in einer Praxis wegen des Verdachts auf Steuerhinterziehung drohen können, nach dem Motto „weder Tag noch Stunde“. Deswegen solle sich jeder Arzt die Notrufnummer eines Fachanwalts für Steuerrecht bereitlegen.

• Rechtsanwälte mahnen, der Arzt laufe ständig Gefahr, sich sowohl zivilrechtlich als auch strafrechtlich schuldig zu machen.

Kürzlich betonte ein Unternehmensrechtler, jede Arztpraxis benötige ein ­eigenes „Risikomanagement“ mit ausgiebigen „Restrisikobeschreibungen“, sonst drohe nicht nur der Verlust des Haftpflichtschutzes, sondern das gesamte Privateigentum könne drauf­gehen. Risikomanagement sei nämlich heute „State of the art“, also soviel
wie  „Stand der Technik“, man könnte auch sagen „Stand der Wissenschaft“.

Wenn „State of the art“ zur gebotenen Vorschrift wird, wieso dürfen dann überhaupt noch naturheilkundliche Leistungen ohne rechtliches Risiko angeboten werden, die nicht dem Stand der Wissenschaft entsprechen? Stellen wir uns einmal folgendes Szenario vor: Ein Patient bekommt eine diätetische Empfehlung, die nicht dem Stand der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) entspricht. Im Rahmen der Ernährungsumstellung unternimmt er eine Fahrradtour, bei der ihm vorübergehend flau wird und er ins Schwanken kommt. Ein Tanklaster muss ausweichen, kommt von der Straße ab und explodiert. Wer haftet?

Ich kann mir sehr gut einen entsprechenden Prozess vorstellen, bei dem Richter und Staatsanwälte Gutachter herbeirufen. Ein Ernährungswissenschaftler der DGE erklärt, die dem Radler empfohlene Ernährungsform sei wissenschaftlich nicht belegt. Ein Universitätsprofessor, an dessen Klinik Aufschnittplatten und Schmelzkäse verabreicht werden, warnt vor „solchen Extremdiäten“. Prompt wird der Therapeut wegen Mitschuld verurteilt.

Schwarzmalerei? Hoffentlich! Ich aber fürchte: leider nein. Und ich sehe noch eine andere Gefahr: Auch ohne entsprechende Urteile werden Verfahren der Erfahrungsmedizin immer weiter zurückgedrängt, nicht zuletzt durch eine Art vorbeugende Selbstzensur. Wer meint, das sei abwegig, dem empfehle ich, die Beipackzettel langjährig bewährter pflanzlicher oder homöopathischer Medikamente zu lesen. Dort steht neuerdings z. B. drin, „nicht länger als eine Woche einnehmen“. Dagegen können stark mit Nebenwirkungen behaftete Präparate wie etwa Rheumamittel oder Magensäureblocker offenbar „ewig“ genommen werden.

Was passiert da? Eine Mischung aus Bevormundungswahn und vorauseilendem Gehorsam führt zur (Selbst)zensur der Naturheilverfahren. Oder muss man solchen Unsinn nun „Risikomanagement“ nennen?

Mit den besten Grüßen