Ruhigstellen ist nicht gleich Ruhigstellen

Liebe Leserin, lieber Leser,

Menschen, zumal ältere Patienten in der Klinik, die über innere Unruhe klagen, werden häufig als lästig empfunden und nicht selten medikamentös „ruhiggestellt“. Die Pharmaindustrie bietet in diesem Zusammenhang eine breite Palette von Beruhigungsmitteln, Tranquilizern und Schlafmitteln. Allesamt haben das Potential, nach und nach eine Abhängigkeit zu erzeugen.

Pflanzliche Präparate können in leichteren Fällen eine Alternative darstellen. Ihr Wirkeintritt ist aber häufig verzögert und die Wirkstärke im Vergleich zu chemischen Produkten deutlich schwächer. Außerdem bleibt auch der Einsatz pflanzlicher Präparate eine symptomatische Therapie, die mögliche Ursachen nicht behebt. Doch neben anlagebedingten Neigungen zu „Zappeligkeit“ oder organischen Erkrankungen, wie Störungen der Schilddrüse, ist es zugegebenermaßen oft sehr schwierig, eine Begründung für Unruhezustände und Ängste der unterschiedlichsten Art zu finden.

Bei jüngeren Menschen kann die konsequente Ableitung in körperliche Betätigung, z.B. intensiver Sport oder schwere körperliche Arbeit im Garten, einen hilfreichen Blitzableiter darstellen. Manche Psychotherapie bis zum St. Nimmerleinstag könnte dadurch zeitlich begrenzt oder überflüssig werden. Eine Veränderung der Lebensführung kann die innere Unruhe in vieler Hinsicht positiv beeinflussen, zumindest lernen die Betroffenen, besser damit umzugehen.

Bei alten Menschen dagegen führt mitunter an der symptomatischen Therapie kein Weg vorbei. Folgende Anekdote aus meiner früheren Weiterbildungszeit in der Landarztpraxis mag die Problematik verständlich machen: Viele ältere Damen wurden routinemäßig ein- oder zweimal die Woche im Rahmen von Hausbesuchen betreut. (Seinerzeit waren Hausbesuche noch gut dotiert und daher angeblich unbedingt notwendig. Heute sind sie budgetiert und deswegen nicht mehr notwendig …) Nicht wenige der besagten älteren Damen erhielten regelmäßig eine „Beruhigungsspritze“. Oft handelte es sich dabei um harmlose Substanzen mit einer Wirkungsdauer von bestenfalls wenigen Stunden, wenn überhaupt. Wahrscheinlich hat der Plazeboeffekt alles andere überwogen.

Vollgestopft mit Wissen aus der Akutklinik und der Universität versuchte ich einer dieser betroffenen älteren Damen zu erklären, daß der Effekt der Spritze über einen mehrtätigen Zeitraum eher fraglich sei – und auf der anderen Seite sogar die Gefahr einer Abhängigkeit drohe. Ob man es denn nicht einmal „ohne“ versuchen solle. Gesagt, getan.

Ich war von dem Hausbesuch noch nicht zurückgekehrt, sagte mir schon die Sprechstundenhilfe, ich müsse sofort wieder zu der besagten Dame hinfahren, die Tochter habe eben angerufen und mitgeteilt, „die Oma sei umgekippt“, weil sie heute ihre Spritze nicht erhalten habe. Ich bin schnurstracks hingefahren, habe die Spritze verabreicht und habe dies auch alle weiteren Wochen so getan und mich fortan gehütet, gerade bei älteren Menschen heroische Umstellungsaktionen vorzunehmen.

Es gibt also Situationen, in denen es für die Betroffenen (und deren Angehörige) ein Segen ist, wenn man sie in Gottes Namen bei ihren Spritzen oder Medikamenten beläßt, anstatt aus übertriebener Angst vor Nebenwirkungen all das umkrempeln zu wollen, woran sich der Patient über Jahre gewöhnt hat.