Spaziergänge in der Brandungszone

Liebe Leserin, lieber Leser,

die finanzielle Klemme der Krankenkassen liegt nicht an mangelnden Einnahmen, wie Politiker und Funktionäre behaupten, sondern daran, daß viel zu viel Geld durch unsinnige Therapien, Doppelt- und Dreifachuntersuchungen und in den Verwaltungen der Krankenkassen versickert. Wo die Ressourcen begrenzt sind, der Bedarf aber unendlich ist, muß gespart werden. Es muß auf den Prüfstand, welche medizinischen Leistungen in Zukunft durch die gesetzliche Krankenkasse abgedeckt sein können und welche nicht.
Mir fällt auf, daß gerade bei älteren Menschen in letzter Zeit ganz drastisch gespart wird und dieser Personenkreis „aus Budgetgründen“ wie eine heiße Kartoffel unter den Therapeuten herumgereicht wird. Von ihren behandelnden Ärzten wird häufig mitgeteilt, ein Hausbesuch sei „nicht mehr drin“. Außerdem könne dieses oder jenes Medikament nicht mehr verordnet werden, und weitergehende Untersuchungen seien „nicht nötig“. Nicht selten werden auf diese Weise schwerwiegende Krankheiten verschleppt oder übersehen. Dies nennt man dann Weiterentwicklung der solidarischen Krankenversicherung.
Auf der anderen Seite werden Leistungen, die vielleicht im Einzelfall sinnvoll sein können, aber sicherlich nicht flächendeckend notwendig sind, großzügig gewährt. Ein typisches Beispiel: die sogenannten Mutter-Kind-Kuren. Dank Seehofer wurden 1997 zahlreiche Rehabilitationskliniken, die wirtschaftlich weitgehend am Ende waren, in Mutter-Kind-Kliniken umgewidmet.
Dort werden stationäre Aufenthalte für Mütter im Begleitung der Kinder durchgeführt. Sicherlich kann bei einer schweren Allergie oder auch komplizierten sozialen Verhältnissen ein Erholungsaufenthalt in einer entsprechenden Gegend, zum Beispiel an der Nordsee, sinnvoll sein. Dies war früher über das Müttergenesungswerk möglich und sollte es auch in Zukunft sein. Ob daraus gleich ein stationärer Klinikaufenthalt resultieren muß, bezweifle ich.
Neulich las ich in einem Entlassungsbericht einer Mutter-Kind-Kur-Klinik unter „durchgeführte Therapien“: Mutter-Kind-Entspannung, Spaziergänge in der Brandungszone“.
Ich bin nicht der einzige, der diese Situation kritisiert. In letzter Zeit werden verstärkt „wissenschaftliche Evaluierungen“ der Mutter-Kind-Kuren durchgeführt. Ein Experte will herausgefunden haben, daß Mutter-Kind-Kuren durchaus einen Nutzen haben und unter Umständen Monate über den Aufenthalt hinaus die Gesundheitslage der Betroffenen verbessern. Ein gut gestalteter Urlaub – eventuell unter Einbeziehung eines ambulanten Therapieangebotes am Ferienort – erreicht sicherlich ähnliches.
In Zeiten knapper werdender Ressourcen kann nicht alles bezahlt werden, was wirksam ist, auch wenn es wissenschaftlich nachgewiesen wurde. Entscheidend ist, wie schwerwiegend die Bedrohung der Gesundheit des einzelnen ist. Es kann nicht angehen, daß bei lebensbedrohlichen Erkrankungen besonders älterer Menschen zunehmend geschludert und gespart wird, damit in anderen Fällen – über Härtefälle weit hinausgehend – bessere Erholungsaufenthalte auf Kosten der Allgemeinheit bezahlt werden. Ich zweifle nicht an der Seriosität der Anbieter und an den guten Absichten. Aber: Hier stimmen die Prioritäten einfach nicht.
Wer glaubt, die Gesundheitspolitiker werden in schwierigen Zeiten sicher die richtigen Schwerpunkte setzen, sieht sich getäuscht. Bislang war die Mutter-Kind-Kur eine Kann-Leistung der gesetzlichen Krankenkasse. Gerade beschloß der Bundestag einstimmig, daß die gesetzlichen Krankenkassen Mutter-Kind-Kuren voll finanzieren müssen. Frage: Wie leben eigentlich Menschen in anderen Ländern?