Urbedürfnisse und wie wir ihnen dienen

Liebe Leserin, lieber Leser,

der frühere Ordinarius für innere Medizin und Naturheilkunde in Frankfurt, Professor Karl Pirlet (1920–2010, siehe „Heilkraft unserer Natur“ in Naturarzt 4/2007) formulierte einst: „Naturgemäß ist nur diejenige Medizin, die der Natur des einzelnen Menschen gemäß ist.“ Eine einfache Aussage, die aber hohen Wahrheitsgehalt hat und an die wir uns auch in der Naturheilkunde viel zu selten halten. Denken wir nur an pauschale Ernährungsempfehlungen, die – ausschließlich auf Inhaltsstoffen basierend – sich nicht um die individuelle Bekömmlichkeit kümmern. Oder an die Verordnung von ausleitenden und „entgiftenden“ Verfahren für jedermann, selbst für fröstelnde Menschen vom Typ Astheniker. Viele Patienten spüren intuitiv, welche Therapie ihnen zuträglich ist und welche nicht. Manchmal beherrschen zwar unrealistische Ängste vor Nebenwirkungen das Verhalten, dennoch sollte man der Einschätzung des Patienten immer einen hohen Stellenwert zumessen.

Nun könnte man diese Diskussion ausweiten und die grundsätzliche Frage stellen: „Welche Dinge erfüllen eine Art Urbedürfnis des Menschen, sind somit im tiefsten seiner Natur gemäß?“ Manche meinen, die Zentralheizung gehöre mit an vorderster Stelle zu diesen technologischen Antworten auf Urbedürfnisse, andere halten zum Beispiel die Lokalanästhesie für den Spitzenreiter.

Wenn ich mich heute so umgucke, komme ich zu einem anderen Ergebnis. Ich möchte mit einem Augenzwinkern behaupten: Diejenigen Erfindungen, die wie kaum andere zuvor den natürlichen Wünschen des Menschen entgegenkommen, scheinen I-Pads und -Pods, Smartphones und Tabletcomputer zu sein. Es ist ja kaum noch eine normale Unterhaltung möglich, ohne dass irgendjemand so ein Instrument aus der Tasche zieht. Besonders in asiatischen Städten kann man beobachten, wie Menschen in der U-Bahn wie an einer Hühnerleiter aufgereiht mit diesen Dingern den ganzen Tag herumwerkeln. Der eine hat Kopfhörer im Ohr, der andere fährt Autorennen, der nächste liest in einem E-Book, ein vierter versendet immer neue Nachrichten, ein fünfter surft im Internet und ein sechster telefoniert pausenlos und verhandelt über große Geschäfte.

Man mag als naturheilkundlicher Therapeut fragen: Was soll aus diesen Menschen werden? Macht so etwas nicht krank? Allein die Strahlenbelastung durch moderne Medien stellt ein Risiko für unsere Gehirnentwicklung dar. Ohne Frage erhöhen solche Vorgänge den Stressfaktor in uns ganz drastisch. Der Sympathikus, also jener Anteil des Nervensys-tems, der für die Aktivierung von Herz-Kreislauf und Blutdruck zuständig ist, wird noch mehr überdreht. Sein Gegenspieler, der Vagus, der für Entspannung, Ruhe und natürliche Verdauung sorgt, verkümmert immer mehr. So erklärt sich die seuchenhafte Zunahme des hohen Blutdrucks auch aus dem wachsenden, aber nicht selten selbst mitverursachten Stress.

Alles, was zu viel ist, macht krank. Sebastian Kneipps Idee der „Ordnungstherapie“ muss modern weitergedacht werden. Es geht nicht mehr nur um einen sinnvollen Rhythmus von Schlafen, Wachen, Bewegung und sonstiger körperlicher Anspannung. „Ordnung“ und „das richtige Maß“ sind hoch aktuelle Kriterien – und Urbedürfnisse – in unserem technisierten Alltag. Wenn man dies berücksichtigen und technische Angebote verantwortungsvoll einsetzen würde, könnten sogar solche „natürlichsten Erfindungen aller Zeiten“ wirklich nutzbringend sein.