Wer weiß schon, wie der Cocktail wirkt …

Liebe Leserin, lieber Leser,

Benommenheit und Verwirrtheit sind bei Bewohnern von Pflegeheimen verbreitet. Schnell wird dahinter eine Demenz vom Alzheimer Typ oder etwas Ähnliches vermutet. Es gibt aber eine Reihe von Fällen, bei denen eine ganz andere Ursache verantwortlich ist: Medikamentenüberdosierungen. Die Symptomatik bessert sich dann nach Medikamentenpausen oder wenn bestimmte, irgendwann einmal angesetzte, aber medizinisch nicht zwingend notwendige Arzneimittel reduziert oder abgesetzt werden.

Der 75-jährige nimmt heute im Durchschnitt siebeneinhalb medizinisch-chemische Substanzen ein. Das ist wissenschaftlich überhaupt nicht zu begründen. Randomisierte Doppelblindversuche, die heute als Standard für anerkannte wissenschaftliche Arzneimittelprüfungen gelten, beziehen sich in der Regel auf eine Substanz, in einigen Fällen auch auf die Kombination von zwei Substanzen, beispielsweise Blutdrucksenker wie ACE-Hemmer in Kombination mit Entwässerungsmitteln. Siebeneinhalb Substanzen kann man in Doppelblindstudien nicht vernünftig erfassen. Man könnte also den alltäglichen Medikamentenmix vieler Senioren als rein experimentelle Medizin bezeichnen oder auch als „Erfahrungsmedizin“. Damit steht die Schulmedizin keinen Deut besser da als die aus diesen Gründen immer wieder kritisierte Naturheilkunde! Während die Naturheilkunde jedoch in vielen Bereichen oft auf eine jahrhundertealte Erfahrung zurückblicken kann, handelt es sich bei der Mehrfachkombination chemischer Arzneimittelwirksubstanzen um ein neues Erfahrungsgebiet.

Was auch kaum beachtet wird: Beim älteren Menschen lässt die Funktion sämtlicher Organe allmählich nach. Nicht nur die Herzleistung sinkt. Dies gilt z. B. auch für Leber- und Nierenleistung und bedeutet, dass chemische Medikamente langsamer verstoffwechselt bzw. abgebaut werden. Gibt man die gleiche Dosierung wie beim Erwachsenen mittleren Lebensalters, kommt es häufig zu Überdosierungen, weil die Substanzen nicht so schnell ausgeschieden werden.

Unabhängig davon werden häufig Medikamentenkombinationen eingesetzt, die per se kritisch sind. Vor allem fällt mir immer wieder die heikle Kombination notwendiger Herz- und Blutdruckmittel mit Schmerzmitteln vom Typ Ibuprofen oder Diclofenac auf, aber auch die Kombination mit Psychopharmaka ist problematisch. Mich erstaunt, wie lässig man im schulmedizinischen Bereich über die zahlreichen in Beipackzetteln durchaus beschriebenen Neben- und Wechselwirkungen hinweggeht.

Wenn Sie sich, lieber Leser, nicht sicher sind: Es gibt im Internet einen „Wechselwirkungs-Check“ der „Apotheken-Umschau“. Da kann man selbst die verwendeten Medikamente eingeben und sieht dann sofort, welche möglichen Gefahren und Wechselwirkungen entstehen. Natürlich können Sie auch Ihren Apotheker vor Ort fragen. Oder besser noch den verordnenden Arzt. Aber mal ganz ehrlich: Wir wissen ja oft selbst nicht, wie 7,5 Medikamente in Kombination wirken … Auch wir Ärzte müssen mitunter auf solche Internetseiten oder „Apps“ zurückgreifen angesichts der Komplexität möglicher Nebenwirkungen.

Aus den verschiedenen genannten Gründen gilt besonders beim betagten Menschen für die Gabe chemischer Medikamente: Wir dosieren zunächst niedriger als üblich und steigern die Dosis nur sehr langsam. Auf Englisch lautet die Devise einprägsam „start low – go slow“.

Mit besten Grüßen

Ihr Dr. med. Rainer Matejka