Wie mittelalterlich ist der Aderlaß?

Liebe Leserin, lieber Leser,

Die Entziehung von Blut war seit dem Altertum ein zentrales Heilmittel. Im 18. Jahrhundert geriet der Aderlaß in Verruf, weil man ihn wahllos und exzessiv angewandt hatte. Bis heute ist er vielen verdächtig geblieben: Spricht man mit Vertretern der Schulmedizin darüber, wird meist abfällig bemerkt, diese „mittelalterliche Methode“ wende man ja heute nicht mehr an. Die Prüfer der „Stiftung Warentest“ waren wohl auch der Meinung, denn sie hielten es gar nicht für nötig, dieses Verfahren zu beurteilen (siehe „Naturheilkunde – alles Humbug?“ auf Seite 8 bis 10).

Allerdings macht selbst die Schulmedizin vom Aderlaß Gebrauch: bei einer krankhaften Vermehrung der Blutzellen (Polyzytaemia vera) und bei der Eisenspeicherkrankheit (Hämochromatose) – hier bietet das „Mittelalter“ sogar heute noch die entscheidende Therapie. Doch die sinnvollen Anwendungsgebiete des Aderlasses sind wesentlich umfangreicher, sie reichen von Bluthochdruck und Herzschwäche, über Schwindel und chronischen Juckreiz bis zu Folgen des Nikotinmißbrauchs.

Wenn ich vom Aderlaß spreche, meine ich damit die Blutentnahme von 250 ml. In einer Studie der Universität Innsbruck konnte vor geraumer Zeit nachgewiesen werden, daß regelmäßig zweimal jährlich durchgeführte Aderlässe die Herzinfarkt- und Schlaganfallrate senken. Eigentlich nicht verwunderlich, denn man weiß seit langer Zeit, daß der Aderlaß blutdrucksenkend, blutverdünnend, stoffwechselentlastend und sogar beruhigend auf das vegetative Nervensystem wirkt. Darüber hinaus hat er einen antientzündlichen Effekt.

Und die Nebenwirkungen? Als ich im Rahmen eines Ärztevortrages über den Nutzen der Methode sprach, fragte mich ein Kollege, ob ich denn keine Angst vor einer „Verdünnungs-Hyponatriämie“ hätte. Dieser akute Natriummangel sei doch eine mögliche gefährliche Komplikation. Ich fragte ihn darauf hin, wie viele von diesen Verdünnungs-Hyponatriämien er denn gesehen habe – ich habe bisher weder eine gesehen, noch sind mir reale Fälle bekannt geworden –, worauf er antwortete, er selbst führe keine Aderlässe durch. Ein anderer Kollege erklärte, seine Frau sei Juristin. Und diese wüßte, daß ein Aderlaß heutzutage kein Therapiestandard mehr sei und deswegen bei möglichen Komplikationen die ärztliche Haftpflicht nicht zahle.

Vor kurzem wurde im Radio der ärztliche Leiter einer Blutspendezentrale interviewt. Er warb für das Blutspenden als einem Verfahren, welches nicht nur hilfreich für die Mitmenschen sei, sondern auch den Spendern positive gesundheitliche Effekte ermögliche. Viele fühlten sich nach einer Blutspende „deutlich besser“. Da die entnommene Menge „gering“ sei, bestünde keinerlei Risiko. Männer könnten sechsmal im Jahr problemlos spenden, Frauen in der Regel viermal jährlich.

Zum Vergleich: Bei der Blutspende werden 500 ml, also die doppelte Menge des oben beschriebenen Aderlasses entnommen. Während dieser als mittelalterlich und potentiell hochgefährlich eingestuft wird, gilt die Blutspende als vollkommen harmlos. Tatsächlich hat der Aderlaß aber einen wichtigen Vorteil: Bei Entnahme von 250 ml wird das Knochenmark nicht so schnell zur Neuproduktion roter Blutkörperchen angeregt wie bei der Blutspende. Deswegen ist der Aderlaß aus medizinischer Sicht als höherwertig einzustufen. Vielleicht würden es mehr Kollegen und Patienten begreifen, wenn da nicht der altmodische Name wäre.

Mit besten Grüßen