Wie wichtig ist (uns) der mündige Patient?

Liebe Leserin, lieber Leser,

auf die Frage, warum es die Naturheilkunde mit der Anerkennung oft so schwer hat, werden meist die Pharmalobbyisten und die Ärzteschaft als Schuldige genannt. Mit Verlaub – aber das scheint mir weniger als die halbe Wahrheit. Ein Journalist sah das Problem auch darin, Naturheilkunde sei zu wenig „sexy“. Wahrscheinlich sieht die banale Realität meist so aus: Der „Normalbürger“ bevorzugt im Zweifelsfall den vordergründig bequemen Weg der Tablette oder des künstlichen Gelenks statt Lebensstiländerung mit gesünderer Ernährung und mehr Bewegung.

Das muss uns aber nicht deprimieren, denn so war es letztendlich immer in der Geschichte. Zugespitzt könnte man formulieren: Bequemlichkeit war stets der Natur der meisten Menschen gemäßer als naturgemäße Lebensweise! Und besonders die Wohlstandsgesellschaft fördert unreflektierte Konsummentalität – gerade auch in Bezug auf „Gesundheitsleistungen“:

► ein Ziehen im Nacken – gleich zum Orthopäden,
► ein kleiner roter Fleck auf der Haut – ab zum Dermatologen,
► Übelkeit heute Abend – gleich morgen zum Gastroenterologen,
► Halskratzen – ein Fall für den HNO-Arzt.

Und wenn es ganz dick kommt: Liebeskummer? Dafür ist der Psychotherapeut zuständig, wenn’s sein muss mit bis zu 30 Stunden Psychotherapie – auf Kassenkosten, versteht sich … Sicher, alles hat seine zwei Seiten und niemand muss uns erklären, wie oft unser Gesundheitswesen Not abwendet.

Doch als Naturheilkundler sollten wir uns gelegentlich vor Augen halten: Überall dort, wo medizinische Hilfe weit entfernt oder die Gesellschaft arm ist, sind derartige Dinge undenkbar. Dort hilft man sich selbst – und nicht selten mit einfachen Hausmitteln. Das war früher auch in Deutschland nicht anders. Noch bis in die 1980er Jahre gab es eine ältere Generation, die Notzeiten kannte und sich mit Wickeln, Schwitzpackungen, Bädern, Selbstmassagen, Einläufen, Kräutermedizin und ähnlichem gut auskannte. Und die den Mut hatte, auch mal ein, zwei Tage abzuwarten, ob nicht eine Spontanheilung eintritt.

Eine solche Haltung ist wünschenswert, macht unabhängig und mündig! Der Objektivität halber muss man ja sagen: Das Gesundheitswesen fördert den mündigen Patienten nicht. Dieser wird zwar gern in Sonntagsreden beschworen. Aber in der Realität sieht’s anders aus: Die leitlinienorientierte Stromlinien-Medizin möchte genau den oben beschriebenen passiven Konsumenten, der nicht viel fragt.

Ganz hoffnungslos ist die Situation jedoch nicht. Wie der Jubiläumskongress zum 125. Gründungsjahr des Deutschen Naturheilbundes in Pforzheim zeigte (siehe auch „Gut zu wissen“, S. 50), sind sehr wohl zahlreiche Menschen bereit, sich über Möglichkeiten der Selbsthilfe zu informieren. Man hatte ja schon etliche Veranstaltungen zum Thema Naturheilkunde erlebt – manche mit eher enttäuschender Resonanz. Das DNB-Jubiläum jedoch sprengte alle Rekorde. Ob des Besucheransturms konnte man den Eindruck gewinnen, ein sportliches Groß-ereignis finde statt. Zu den Faktoren des Erfolgs zählten – neben der hervorragenden Arbeit der Veranstalter und den hochkarätigen Referenten – auch die Offenheit und Unterstützung durch die örtliche Politik und die Medien. Möge dieses Beispiel Schule machen.

In diesem Sinne, herzlich

Ihr Dr. med. Rainer Matejka