Warum die Komplementärmedizin immer wichtiger wird

Unsere Gesundheitsversorgung ist zweifellos eine der besten der Welt. Und doch gibt es einiges, was man besser machen könnte, dies betrifft vor allem die Behandlung chronischer Krankheiten. Prof. Dr. Dr. Harald Walach schreibt im Naturarzt, wo und warum es „hakt“ – und weshalb die Komplementärmedizin so wichtig ist.

Mindestens 40 % aller Krankheitsfälle werden durch Lebensweise und Verhalten bestimmt. Andere Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 80 % aller Patienten, die sich in einer Allgemeinpraxis vorstellen, funktionelle oder psychosomatische Störungen haben, also solche, bei denen nicht einfach eine simple Ursache ausgemacht werden kann, sondern ein ganzes Netzwerk von Ursachen in komplexer Weise zusammenspielt. Hier kann die Komplementärmedizin einige Anstöße geben. Ihre wichtigsten Teildisziplinen, z. B. die klassische Naturheilkunde mit der Ordnungstherapie, die Homöopathie mit ihrer Lehre von der Lebenskraft, die Pflanzenheilkunde oder die Osteopathie verstehen sich mehr oder weniger stark als Anreize, die den Organismus zu Heilreaktionen anregen bzw. helfen, seine Selbstregulation ins Lot zu bringen.

Nun werden viele Kritiker sofort sagen: Ja, aber ist das denn alles gut belegt und bewiesen? Dazu muss man zunächst klarstellen, dass das „Erwiesene“ bzw. „Belegte“ auch in der konventionellen Medizin weit seltener anzutreffen ist als allgemein angenommen. Spezifische Arzneimitteleffekte, die in klinischen Studien weit über den Placeboeffekt hinausgehen, kommen auch in der konventionellen Forschung nur sehr selten vor. Die Misere kommt daher, dass die Placebowirkungen extrem stark sind. Nur etwa 40 % der Schwankungen der Ergebnisse in klinischen Arzneimittelstudien sind darauf zurückzuführen, dass die untersuchten Arzneimittel spezifisch wirken. Und zwar, weil die unspezifischen Effekte, z. B. die Placebowirkungen, viel mächtiger sind.

Interessanterweise sind oft die Placebo-Effekte in Studien, die komplementärmedizinische Behandlungsmethoden untersuchen, höher, als die therapeutischen Effekte von pharmakologischen und anderen Interventionen in konventioneller Behandlung. Prof. Walach nennt dies das „Wirksamkeitsparadox“: Interventionen, die es schwer haben, spezifische Wirksamkeit gegenüber Placebo zu belegen, wie etwa die Homöopathie, können trotzdem effektiver sein als konventionelle Behandlungen, die eine solche Spezifität gezeigt haben. Daraus zieht er folgenden Schluss: „Die Kunst Placebo-Effekte zu maximieren und therapeutisch zu nutzen, ist die eigentliche ärztliche Kunst.“ Deswegen könnte Komplementärmedizin in unserem Gesundheitssystem wichtig werden. Denn sie optimiert diese Kunst und betreibt damit den vielleicht therapeutischsten aller Akte: das Weglassen von invasiven Interventionen.

Das finale Totschlagargument gegen die Komplementärmedizin lautet meistens: Das alles ist zu teuer. Wir können es uns nicht leisten. Neue Untersuchungen zeigen aber, dass dieses Argument falsch ist. Prof. Walach: „Komplementärmedizin ist kostengünstig.“ Es wäre daher an der Zeit, sie noch mehr in unser Gesundheitssystem zu integrieren und vor allem eine entsprechende Erstattungspolitik zu betreiben.

Weitere Informationen und Argumente in Naturarzt 1/2015